Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
schnellsten Weg an die frische Luft. » Das darf er nicht«, zischte sie.
» Biba, nicht!«, schrie Rex so laut, dass sogar der kleine alte Mann von seinem Stout aufblickte. Endlich fand ich meine Stimme wieder.
» Er lebt«, brachte ich hervor. » Euer Dad. Er lebt!«
Rex war nie ungeduldig, aber jetzt war er nah daran.
» Natürlich lebt er«, sagte er. » Wieso denn nicht?« Ein Schwall schwüle Luft lenkte meine Aufmerksamkeit zur Schwingtür, und ich sah noch, wie Biba hinauslief. Mit drei großen Schritten war Rex bei der Tür. Ich hob das Magazin auf und rannte hinter ihnen her auf die Straße.
DREIZEHN
B iba rannte schneller als wir beide, sah ich überrascht und ein bisschen verdrossen. Ich war diejenige, die stundenlang auf dem Laufband rackerte, während sie immer nur rauchte und hungerte, und trotzdem musste ich meine letzten Reserven aufwenden, um mit ihr Schritt zu halten. Was ihr an Lungenkapazität und Muskelkraft fehlte, glich sie durch Leichtigkeit und Eleganz aus. Außerdem hatte sie den unschätzbaren Vorteil zu wissen, wo sie hinwollte: Nicht ein einziges Mal wandte sie den Kopf, um nach einem Straßenschild zu schauen oder sich zu orientieren, und wenn sie um Ecken bog, tat sie es mit den schnellen Haken dessen, der einen Weg schon kennt und ihn per Autopilot zurücklegt. Die Straßennamen standen hier in weißen Lettern auf schwarzen Kacheln, aber ich hatte keine Zeit, sie einzeln zu lesen. Meine Lunge schwoll an, und mein Magen spannte sich um den Brei aus Essen und Getränken in meinem Bauch, aber ich lief weiter. Ich wusste nicht, wohin sie wollte oder was ich verhindern würde, wenn ich sie einholte. In unbestimmten Visionen sah ich mich wie einen Rugbyspieler, der sie mit einem Tackling zu Boden warf, aber eigentlich wollte ich sie gar nicht aufhalten: Mein Herzklopfen hatte mit meiner Aufregung genauso viel zu tun wie mit der Anstrengung. Nachdem ich wochenlang an Bibas geheimer Geschichte herumgekratzt hatte, öffnete mir das Geschichtsbuch der Familie jetzt seine Seiten.
Ich verringerte die Lücke jetzt, und ein keuchendes Japsen in meinem Ohr verriet mir, dass Rex den Anschluss nicht verloren hatte. Alle drei rannten wir jetzt mitten auf der Straße. Die Leute spazieren durch diese kleinen Privatsträßchen und geheimen Alleen, sie rennen nicht– es sei denn, sie wären Jogger oder Räuber. Zum Joggen waren wir nicht angezogen, und als Handtaschendiebe waren wir ein unwahrscheinliches Trio, aber trotzdem erregten wir Aufmerksamkeit, als wir durch die Straßen flogen. Aber wir liefen zu schnell, um uns um die Sonntagsspaziergänger zu kümmern, die glotzend stehen blieben.
Aus dem Augenwinkel nahm ich einen Wegweiser zu Keats’ House wahr, und mein Gehirn machte ein unscharfes Foto von einer großen weißen Villa hinter einer Reihe Magnolien. Als Studentin hatte ich Keats’ Wohnung in Rom besucht, und meine Gedanken, die noch vor Sekunden so konzentriert gewesen waren, machten eine scharfe Kurve in Richtung auf diesen ockergelben Palazzo neben der Spanischen Treppe. Die unheimlichsten Details erhoben sich aus den entlegensten Ecken meines Gedächtnisses, Szenen aus einem anderen Leben: Ich erinnerte mich an den Teller matschiger Spaghetti, den ich am Rande der Piazza mit Simon geteilt hatte. Der wenig bemerkenswerte Tagtraum nahm ein abruptes Ende, als ein großer schwarzer Allradwagen rückwärts aus einer versteckten Einfahrt rollte und das Chrom seines Kuhfängers mit meinem Schenkel zusammenstieß.
Der Anprall war nicht besonders heftig– ich war schneller gewesen als der Wagen–, aber er genügte, um mich zu Boden zu schleudern. Ich hörte das Knirschen und Quietschen von Fuß- und Handbremse, die gleichzeitig betätigt wurden, und einen Augenblick später war der Fahrer herausgesprungen, und sein entsetztes Gesicht schwebte über mir. Rex kam schlitternd zum Stehen, so schnell, dass seine Schuhe im sonnenweichen Straßenbelag eine Kerbe hinterließen. Ich fühlte ein dumpfes Pochen in meinem Bein, wo der Wagen mich erwischt hatte, und in der Hüfte, auf der ich gelandet war, und ich wusste, dass dort am nächsten Morgen zwei dicke blaue Flecken leuchten würden. Darum würde ich mich dann kümmern.
» Alles okay«, sagte ich zu Rex, dem Fahrer und der anschwellenden Menge. » Wirklich, alles okay.« Ich zog mich an dem Kuhfänger hoch und belastete erst das linke, dann das rechte Bein. Nichts gebrochen. Ich schaute in die Richtung, in der ich Biba zuletzt gesehen
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