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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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Kinder standen auf und traten vor das Kruzifix.
    »Lieber Gott, du musst uns helfen, denn der Teufel hat die Menschen böse gemacht. Amen«, beteten die drei gemeinsam, wie sie es offenbar schon oft getan hatten.
    Dann verließen sie das Versteck und stapften durch den verharschten Schnee im Stadtgraben zu einer Treppe, die sie hinaufstiegen, um dann über einen Wehrgang und eine weitere Treppe in eine Gasse zu gelangen, die Richtung Pegnitz und zum Henkersteg führte.
    Draußen war es bitterkalt. Über den dunklen Gassen leuchteten Sterne am klaren Himmel. Es waren nicht mehr viele Menschen unterwegs. Alle hatten sich in ihre warmen Stuben zurückgezogen, aßen zu Abend oder saßen beieinander und freuten sich auf das Weihnachtsfest, trafen letzte Vorbereitungen, bastelten Geschenke oder verpackten sie. Manchen fiel vielleicht gerade ein, dass sie vergessen hatten, sich rechtzeitig um einen Weihnachtsbaum zu kümmern. Andere erinnerten sich nicht mehr, wo sie die Kiste mit dem Christbaumschmuck hingetan hatten. In den Küche diskutierten die Frauen über die Zutaten für das große Weihnachtsessen oder backten noch mehr Plätzchen, Stollen und Früchtebrote. Und niemand sah nach draußen und bemerkte die vier Gestalten, ein Mann und drei Kinder, auf dem Weg zum Henkersteg.
    »Wenn wir einem Polizisten begegnen«, hatte Keiner zu Pistoux gesagt, »dann laufen wir weg, und du gehst einfach weiter. Wir treffen uns dann am Henkersteg.« Aber es kam ihnen kein Polizist entgegen. Wer jetzt noch unter Menschen sein wollte, musste sich entweder ins helle elektrische Licht begeben, das den Christkindlesmarkt erhellte und die Buden wie jeden Abend in überirdisch strahlendes Licht tauchte, oder in ein Wirtshaus gehen, wo es auch an diesem Sonnabend vor dem vierten Advent lautstark zuging.
    Aber am Henkersteg war es still. Das Wasser der Pegnitz floss unter einer Eisdecke zwischen den beiden Bögen der Brücke hindurch. Noch war das Eis nicht dick genug, dass Menschen sicher darauf laufen konnten.
    Pistoux und die Kinder näherten sich dem Henkersteg vom Ufer her. Sie bemerkten die erleuchteten Fenster im Gebäude, das auf den Steg gebaut worden war und der einzige Zugang zum Schuldturm war.
    Über eine schmale vereiste Treppe stiegen sie vom Ufer hinauf zur Straße und gelangten zur Haustür des Gewürzhändlers Wetzel. Die Kinder drängten sich rechts und links von der Tür an die Hauswand, damit sie nicht gesehen werden konnten, und Pistoux betätigte den eisernen Türklopfer.
    Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und Wetzel, bekleidet mit einem Kimono, einem Fes und spitzen Hausschuhen an den Füßen, erschien.
    »Ja, bitte?«, fragte er. »Womit kann ich dienen?«
    Pistoux bemerkte eine lange Porzellanpfeife in der Hand des Gewürzhändlers. Ein süßlicher Geruch nach Räucherwerk strömte mit der warmen Luft aus dem Inneren des niedrigen Häuschens.
    »Man hat mir gesagt, ich könnte hier einen kleinen Jungen finden«, sagte Pistoux.
    Wetzel blinzelte über Pistoux’ Schulter hinweg, als würde die kalte Luft seinen Augen zusetzen. »Einen Jungen? Nein. Da irren Sie sich.«
    »Es wurde mir versichert, dass mein Lehrling aus der Bäckerei hier zu finden sei«, beharrte Pistoux und schob vorsichtig seinen rechten Fuß vor.
    »Ein Lehrling? Welche Bäckerei?«
    »Die Bäckerei Dunkel. Der Junge ist uns fortgelaufen, wohl weil ihm eine Strafe droht. Wir wollen, dass er zurückkommt.«
    »Aber ich habe mit Ihrem Jungen nichts zu schaffen!«, rief Wetzel ungeduldig. »Wie kommen Sie denn auf einen derartigen Gedanken?«
    »Er ist hier gesehen worden.«
    »Unsinn.« Wetzel trat einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen. »Sie irren sich. Auf Wiedersehen!«
    Pistoux schob den Fuß vor und blockierte die Tür.
    »Lassen Sie das! Ich verbitte mir …« Wetzel versuchte, die Tür gewaltsam zuzudrücken.
    Die Kinder kamen Pistoux zu Hilfe. Die Tür rückte wieder ein Stückchen weit auf. Wetzel schrie: »Zu Hilfe, zu Hilfe, Einbrecher!«
    Es half nichts. Mit vereinten Kräften stemmten Pistoux und seine Helfer die Tür auf. Wetzel taumelte zurück, stolperte und fiel hin.
    Die Eindringlinge stürzten herein und schlossen hastig die Tür hinter sich.
    »Stehen Sie auf!«, forderte Pistoux den Gewürzhändler auf. »Und führen Sie uns zu dem Jungen.«
    »Nein!«, rief Wetzel.
    »O doch«, sagte plötzlich eine ganz andere Stimme.
    In der linken Tür, die in Wetzeis Wohnräume führte, erschien ein großer, kräftig

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