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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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seufzten tief. Miettes riesigem, noch ganz feuchtem Haarknoten, ihrem Nacken, ihren Schultern entströmte ein Duft von Frische, ein reiner Odem, der den jungen Mann vollends berauschte. Glücklicherweise erklärte das Mädchen eines Abends, sie wolle nicht mehr baden, das kalte Wasser treibe ihr das Blut in den Kopf. Sicher gab sie dies in aller Aufrichtigkeit und Unschuld als Grund an.
    Nun nahmen sie ihre langen Gespräche wieder auf. In Silvères Gedächtnis blieb von der Gefahr, die ihre unerfahrene Liebe bedroht hatte, weiter nichts zurück als eine große Bewunderung für Miettes Körperkräfte. Sie hatte in vierzehn Tagen schwimmen gelernt, und oft, wenn sie um die Wette schwammen, hatte er sie die Strömung mit ebenso flinken Armen teilen sehen, wie er selbst es tat. Ihn, der Kraft und körperliche Bewegung so sehr liebte, ergriff es, wenn er sie so stark, so fähig, so geschickt sah. Eine eigenartige Hochachtung vor ihren starken Armen senkte sich in sein Herz. Eines Abends, nach einem ihrer ersten Bäder, die sie so fröhlich machten, packten sie sich auf einem Sandstreifen um die Hüften und rangen minutenlang miteinander, ohne daß es Silvère gelang, Miette zu Boden zu werfen, und schließlich verlor der junge Bursche das Gleichgewicht, während das Mädchen auf den Füßen blieb. Ihr Liebster behandelte sie wie einen Jungen, und die Gewaltmärsche, die tolle Jagd quer durch die Wiesen, die in den Baumwipfeln ausgehobenen Nester, die Ringkämpfe, all diese ungestümen Spiele beschützten sie so lange und bewahrten sie davor, ihre Liebe zu beflecken. Außer der Bewunderung für die Verwegenheit seiner Liebsten mengte sich in Silvères Liebe die Milde seines für alle Unglücklichen weichen Herzens. Er, der keinen Verlassenen, keinen Armen, kein barfüßig im Straßenstaub gehendes Kind sehen konnte, ohne daß Mitleid ihm die Kehle zusammenschnürte, liebte Miette, weil niemand sie liebte, weil sie das harte Leben einer Ausgestoßenen führte. Wenn er sie lachen sah, war er tief bewegt von der Freude, die er ihr schenkte. Außerdem war das Mädchen ebenso menschenscheu wie er, und sie fanden einander im Haß gegen die Klatschbasen der Vorstadt. Der Traum, den er tagsüber träumte, wenn er bei seinem Meister mit kräftigen Hammerschlägen Reifen um die Wagenräder legte, war voll hochherziger Torheit. Er dachte an Miette, als wäre er ihr Erlöser. Alles, was er gelesen hatte, kam ihm wieder in den Sinn; er wollte seine Freundin einmal heiraten, um sie vor den Augen der Welt zu erheben; er stellte sich selbst eine heilige Aufgabe: Erlösung und Heil der Tochter des Sträflings. Und er hatte den Kopf so voll von gewissen Verteidigungsreden, daß er sich diese Dinge nicht einfach sagte; er verirrte sich gänzlich in einen sozialen Mystizismus, stellte sich Miettes Rechtfertigung wie eine Verklärung vor, sah sie auf einem Thron sitzen am Ende des Cours Sauvaire und die ganze Stadt sich vor ihr neigen, um Vergebung bitten und einen Lobgesang auf sie anstimmen. Zum Glück vergaß er alle diese schönen Dinge, sobald Miette über die Mauer sprang und auf der Landstraße zu ihm sagte: »Laß uns laufen, willst du? Ich wette, du kriegst mich nicht.«
    Aber wenn auch der junge Bursche hellwach von der glorreichen Erhebung seiner Liebsten träumte, so ging sein Gerechtigkeitsbedürfnis doch so weit, daß er sie oft zum Weinen brachte, sobald er mit ihr über ihren Vater sprach. Obwohl Silvères Freundschaft sie sehr viel weicher gemacht hatte, kam ihr doch von Zeit zu Zeit ein plötzliches Erwachen, böse Stunden, in denen der Eigensinn, das Aufbegehren ihrer heißblütigen Natur sie unzugänglich machten, mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen. Dann behauptete sie, ihr Vater habe gut daran getan, den Gendarmen zu töten, die Erde gehöre allen, jeder habe das Recht, zu schießen, wo und wann er wolle. Silvère erläuterte ihr dann mit seiner ernsten Stimme das Gesetzbuch, so wie er es verstand, mit merkwürdigen Erklärungen, die den gesamten Richterstand von Plassans aufgebracht hätten. Diese Unterhaltungen fanden meist in irgendeinem abgelegenen Winkel der Saint ClaireWiesen statt. Der schwarzgrüne Grasteppich breitete sich aus, so weit das Auge reichte, ohne daß ein einziger Baum einen Flecken auf die riesige Fläche malte, und der Himmel, der mit seinen Sternen das weite kahle Rund des Horizonts erfüllte, schien ungeheuer groß zu sein. Die Kinder wurden gleichsam gewiegt auf diesem Meer von Grün.

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