Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Miette kämpfte lange; sie fragte Silvère, ob es vielleicht besser gewesen wäre, ihr Vater hätte sich von dem Gendarmen töten lassen, und Silvère schwieg einen Augenblick, meinte dann aber, in einem solchen Fall sei es besser, das Opfer zu sein als der Mörder, und es sei immer ein großes Unglück, seinesgleichen zu töten, selbst in berechtigter Notwehr. Für ihn war das Gesetz etwas Heiliges, waren die Richter in ihrem Recht, als sie Chantegreil ins Zuchthaus schickten. Das junge Mädchen geriet außer sich, sie hätte ihren Freund schlagen mögen; sie schrie ihn an, er habe ein ebenso böses Herz wie die andern. Und da er fortfuhr, seine Gedanken über Gerechtigkeit standhaft zu verteidigen, brach sie schließlich in Schluchzen aus und stammelte, sicher schäme er sich ihrer, weil er sie immer wieder an das Verbrechen ihres Vaters erinnere. Solche Auseinandersetzungen endeten in Tränen und gemeinsamer Aufregung. Doch wenn Miette auch weinte, wenn sie auch zugab, vielleicht unrecht zu haben, so behielt sie im Grunde ihres Herzens doch ihre Wildheit, ihren heißblütigen Zorn. Einmal erzählte sie ihm unter anhaltendem Lachen, wie ein Gendarm vor ihr vom Pferd gefallen war und sich dabei das Bein gebrochen hatte. Im übrigen lebte Miette nur noch für Silvère. Fragte er sie nach ihrem Onkel oder ihrem Vetter, dann pflegte sie zu antworten: »Ich weiß von nichts!« Und wenn er in sie drang in der Befürchtung, daß man sie im JasMeiffren zu sehr quäle, sagte sie, sie habe viel Arbeit, nichts habe sich geändert. Dennoch glaubte sie, Justin habe schließlich herausgefunden, warum sie morgens sang und was ihre Augen mit Zartheit erfüllte. Aber sie fügte hinzu: »Was tut˜s? Wenn er jemals kommt und uns stört, werden wir ihm ja wohl solch einen Empfang bereiten, daß ihm die Lust vergeht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen.«
    Die langen Wanderungen in der freien Flur ermüdeten sie jedoch manchmal. Immer wieder kamen sie zum SaintMittreHof zurück, zu dem schmalen Gang, von wo sie die geräuscherfüllten Sommerabende, der allzu starke Duft der niedergetretenen Gräser, die heiße, sinnverwirrende Luft vertrieben hatten. Doch an manchen Abenden war es im Gang milder, Wind machte ihn kühl, und sie konnten ohne Schwindelgefühl dort verweilen. Dann genossen sie köstliche Ruhepausen. Sie saßen auf dem Grabstein, taub für den Lärm der Kinder und Zigeuner, und fühlten sich wieder zu Hause. Silvère hob öfter ein Knochenstück, ein Schädelteil auf, und sie plauderten gern vom alten Friedhof. Mit ihrer lebhaften Einbildungskraft sagten sie sich halb bewußt, daß ihre Liebe wie eine schöne, kräftige und üppige Pflanze in diesem Erdreich, in diesem vom Tod fruchtbar gemachten Fleckchen Erde gewachsen sei; sie war davon gediehen wie das Unkraut, war aufgeblüht wie der Mohn, der beim leisesten Wind auf seinen Stengeln wippte und weit offenen, blutenden Herzen glich; und sie erklärten sich das laue Wehen, das ihnen über die Stirn strich, das Geflüster, das sie im Schatten vernahmen, das lange Erschauern, das den Gang durchlief: Es waren die Toten, die sie mit ihren entschwundenen Leidenschaften anhauchten, die Toten, die ihnen von ihren Hochzeitsnächten erzählten, die Toten, die sich in der Erde umdrehten, ergriffen von einem rasenden Verlangen zu lieben, die Liebe von neuem zu beginnen. Diese Gebeine, das fühlten sie deutlich, waren voller Zärtlichkeit für sie: die zerbrochenen Schädel erwärmten sich an der Flamme ihrer Jugend; die kleinsten Bruchstücke umgaben sie mit einem entzückten Gemurmel, mit unruhiger Besorgnis und bebendem Neid. Und wenn sie fortgingen, weinte der frühere Friedhof. Die Gräser, die in den heißen Nächten ihre Füße fesselten und sie straucheln ließen, waren zarte Finger, die im Grabe dünn geworden waren und aus der Erde herausgriffen, um sie festzuhalten und sie einander in die Arme zu werfen. Dieser scharfe, durchdringende Duft der geknickten Halme war der befruchtende Wohlgeruch, der mächtige Lebenssaft, der langsam in den Särgen bereitet wird, und die Liebenden, die sich in die Einsamkeit der Pfade verirren, trunken vor Verlangen macht. Die Toten, die alten Toten heischten die Hochzeitsnacht von Miette und Silvère.
    Niemals wurden die Kinder von Grauen erfaßt. Die schwebende Zärtlichkeit, die sie rings um sich ahnten, rührte sie, ließ sie die unsichtbaren Wesen lieben, deren Vorüberstreifen sie zu spüren glaubten gleich einem leichten

Weitere Kostenlose Bücher