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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Grade der wohlausgewogene Durchschnitt der beiden Geschöpfe, aus denen es hervorgegangen war. Er hielt die genaue Mitte zwischen dem Bauern Rougon und dem nervösen Mädchen Adélaïde. Seine Mutter hatte in ihm den Vater verfeinert. Die verborgene Arbeit der Temperamente, die mit der Zeit die Verbesserung oder den Verfall einer Art bestimmt, schien in Pierre ein erstes Ergebnis erreicht zu haben. Er war zwar noch immer ein Bauer, aber ein Bauer mit einer weniger rauhen Haut, einem nicht so groben Gesicht und einem weiteren und beweglicheren Verstand. Vater und Mutter hatten sich sogar gegenseitig in ihm veredelt. Wenn Adélaïdes Natur, durch das Aufbegehren ihrer Nerven in reizvoller Weise gesteigert, die Schwerblütigkeit Rougons bekämpft und vermindert hatte, so hatte sich dessen lastende Schwere der Auswirkung der mütterlichen Zerrüttetheit auf das Kind entgegengestellt. Pierre kannte weder den Jähzorn noch die krankhaften Träume der Macquartschen Wolfsjungen. Obgleich er sehr schlecht erzogen war und lärmend wie alle Kinder, die unbehindert auf das Leben losgelassen werden, besaß er dennoch im Tiefsten so viel vernünftige Besonnenheit, daß er stets vor nutzloser Torheit bewahrt bleiben sollte. Seine Laster, seine Faulenzerei und seine Genußsucht hatten nicht das triebhafte Ungestüm der Laster Antoines; er wollte sie vor aller Welt in Ehren pflegen und befriedigen. Aus seiner wohlgenährten, mittelgroßen Gestalt, seinem langen, bleichen Gesicht, worin die Züge des Vaters gewisse Feinheiten von Adélaïdes Antlitz angenommen hatten, erriet man bereits den hinterhältigen, schlauen Ehrgeiz, das unersättliche Bedürfnis nach Befriedigung seiner Wünsche, die Gefühlskälte und den gehässigen Neid eines Bauernsohnes, aus dem das Vermögen und die nervöse Reizbarkeit der Mutter einen Bürger gemacht haben.
    Als Pierre mit siebzehn Jahren von Adélaïdes lockerer Lebensführung und von Antoines und Ursules besonderer Lage erfuhr und dies alles begriff, schien er weder betrübt noch entrüstet, sondern lediglich sehr mit der Frage beschäftigt zu sein, welches Verhalten er zur Wahrung seiner eigenen Interessen beobachten müsse. Von den drei Kindern hatte er allein mit einer gewissen Ausdauer die Schule besucht. Ein Bauer, der die Notwendigkeit der Schulbildung einsieht, wird meistens ein grimmiger Rechner. In der Schule weckten seine Kameraden durch Hohngelächter und die beleidigende Art, mit der sie seinen Bruder behandelten, den ersten Argwohn in Pierre. Später konnte er sich manchen Blick und manches Wort deuten. Endlich sah er klar, wie das Haus ausgeplündert wurde. Von da an waren Antoine und Ursule für ihn unverschämte Schmarotzer, Mäuler, die seinen Besitz verzehrten. Seine Mutter beurteilte er genauso, wie es die Vorstadt tat, als eine Frau, die man einsperren sollte, die schließlich noch sein ganzes Vermögen vertun würde, wenn er nicht Ordnung schaffte. Vollends erbitterten ihn die Unterschlagungen des Gemüsegärtners. Von einem Tag zum andern verwandelte sich das lärmende Kind in einen sparsamen, eigensüchtigen Burschen, frühzeitig gereift, entsprechend seinen Anlagen, durch die sonderbare Verschwendungswirtschaft rings um ihn her, die er jetzt nicht mehr sehen konnte, ohne daß es ihm das Herz zerriß. Ihm gehörte das Gemüse, bei dessen Verkauf der Gärtner den größten Teil des Erlöses für sich beiseite brachte; ihm gehörte der Wein, den die Bankerte seiner Mutter tranken, und das Brot, das sie aßen. Das ganze Haus, das gesamte Vermögen gehörte ihm. Nach seiner Bauernlogik war er als der eheliche Sohn der alleinige Erbe. Und da der Besitz verkam, da alle Welt gierig in sein künftiges Vermögen biß, suchte er nach Mitteln, diese Leute, Mutter, Bruder, Schwester, Gesinde, an die Luft zu setzen und sein Erbe unverzüglich anzutreten.
    Es wurde ein harter Kampf. Der junge Mann begriff, daß er vor allem seine Mutter treffen müsse. Schritt für Schritt führte er mit zäher Geduld einen Plan durch, dessen Einzelheiten er lange erwogen hatte. Seine Taktik bestand darin, wie ein lebendiger Vorwurf vor Adélaïde zu stehen; nicht etwa, daß er sich ereifert oder ihr bittere Worte über ihr anstößiges Leben sagte, aber er hatte eine gewisse Art herausgefunden, sie schweigend anzusehen, die sie mit Angst erfüllte. Wenn sie nach einem kurzen Aufenthalt in Macquarts Wohnung wieder zum Vorschein kam, erhob sie nur noch mit Zittern die Augen zu ihrem Sohn; sie fühlte, wie

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