Das Glück der Familie Rougon - 1
seine Blicke, kalt und scharf wie Stahlklingen, sie lange und mitleidlos durchbohrten. Die strenge und schweigsame Haltung Pierres, dieses Kindes von einem Manne, den sie so schnell vergessen hatte, verwirrte ihr armes, krankes Hirn in seltsamer Weise. Sie glaubte, Rougon sei auferstanden, um sie für ihren unsittlichen Lebenswandel zu strafen. Jede Woche bekam sie jetzt einen jener Nervenanfälle, die sie völlig erschöpften. Man überließ sie ihren Krämpfen; war sie wieder zu sich gekommen, so brachte sie ihre Kleider in Ordnung und schleppte sich geschwächt weiter. Oft brach sie nachts in Schluchzen aus, preßte den Kopf in die Hände und nahm die Beleidigungen Pierres als Züchtigungen eines rächenden Gottes hin. Dann wieder verleugnete sie ihn; sie erkannte ihr eigen Fleisch und Blut nicht wieder in dem schwerfälligen Burschen, dessen Gelassenheit ihre Fieberglut so schmerzhaft zu Eiseskälte verwandelte. Schläge wären ihr tausendmal lieber gewesen, als daß er ihr auf diese Weise ins Gesicht sah. Diese unversöhnlichen Blicke, die ihr überallhin folgten, mußten sie schließlich so unerträglich aufregen, daß sie wiederholt den Entschluß faßte, ihren Liebhaber nicht mehr wiederzusehen, aber sobald Macquart wieder da war, vergaß sie ihre Schwüre und eilte zu ihm. Und nach ihrer Rückkehr begann dann der Kampf von neuem, noch stummer, noch schrecklicher. Nach einigen Monaten war sie ihrem Sohn verfallen. Sie benahm sich ihm gegenüber wie ein kleines Mädchen, das sich seines guten Betragens nicht sicher ist und ständig fürchtet, die Rute verdient zu haben. Schlau wie er war, hatte Pierre die Mutter an Händen und Füßen gebunden, hatte eine untertänige Magd aus ihr gemacht, ohne auch nur den Mund aufzutun, ohne sich in schwierige und peinliche Erörterungen einzulassen.
Als der junge Mann fühlte, daß er seine Mutter beherrschte und sie wie eine Sklavin behandeln konnte, begann er, ihre Gehirnschwäche und die sinnlose Angst, die jeder seiner Blicke ihr einflößte, zu seinem Vorteil auszunutzen. Seine erste Sorge, sobald er sich Herr im Hause wußte, war, den Gärtner zu entlassen und ihn durch eine ihm ergebene Kreatur zu ersetzen. Er selber übernahm die oberste Leitung des Hauses, verkaufte, kaufte, verwaltete die Kasse. Im übrigen versuchte er weder Ordnung in Adélaïdes Lebenswandel zu bringen noch Antoine und Ursule von ihrer Faulheit zu heilen. Daran lag ihm wenig, denn er hatte die Absicht, sich diese Leute bei der ersten Gelegenheit vom Halse zu schaffen. Er begnügte sich damit, ihnen das Brot und das Wasser zuzumessen. Dann, nachdem er bereits das ganze Vermögen in Händen hatte, wartete er auf ein Ereignis, das ihm erlaubte, nach Belieben darüber zu verfügen.
Die Umstände kamen ihm in unerwarteter Weise entgegen. Als ältester Sohn einer Witwe wurde er vom Militärdienst befreit. Zwei Jahre später dagegen traf das Los Antoine. Den berührte sein Pech wenig, denn er rechnete damit, daß seine Mutter einen Ersatzmann für ihn kaufen würde. Tatsächlich wollte ihn Adélaïde vor dem Dienst bewahren. Pierre aber, der das Geld verwaltete, stellte sich taub. Das zwangsläufige Fortgehen seines Bruders war ein Glücksfall, der nur zu gut in seine Pläne paßte. Als seine Mutter die Sache mit ihm besprach, sah er sie so an, daß sie nicht einmal ihren Satz zu beenden wagte. Sein Blick besagte: Du willst mich also deinem Bankert zuliebe ruinieren? Aus Eigensucht überließ sie Antoine seinem Schicksal, denn sie brauchte vor allem Frieden und Bewegungsfreiheit. Pierre, der kein Freund von Gewaltmitteln war und der sich freute, den Bruder ohne Streit vor die Tür setzen zu können, spielte nun den Verzweifelten: das Jahr sei schlecht gewesen, im Hause fehle es an Geld, man müsse ein Stück Land verkaufen, und das sei der Anfang vom Ende. Dann gab er Antoine sein Wort, daß er ihn im nächsten Jahr loskaufen werde, fest entschlossen freilich, nichts dergleichen zu tun. Antoine ging fort, hinters Licht geführt und halbwegs zufrieden.
Auf noch unverhofftere Weise wurde Pierre Ursule los. Ein Arbeiter aus einer Hutfabrik der Vorstadt, ein gewisser Mouret, verliebte sich in das junge Mädchen, weil er fand, sie sei zart und weiß wie ein Fräulein aus dem SaintMarcViertel. Er heiratete sie. Seinerseits war es eine Liebesheirat, völlig unüberlegt, frei von jeder Berechnung. Was Ursule betrifft, so willigte sie in diese Heirat, um dem Hause zu entkommen, wo ihr älterer Bruder ihr
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