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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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der Unterpräfektur; man erhöhte sogar sein Gehalt. Da der Wunsch, eine Rolle zu spielen, ihm bald keine Ruhe mehr ließ, bewog er einen Buchhändler, einen Konkurrenten von Vuillet, ein demokratisches Blatt zu gründen, zu dessen eifrigsten Redakteuren er dann selbst gehörte. Unter seinem Antrieb führte die Zeitung »L˜Indépendant«42 einen erbarmungslosen Krieg gegen die Reaktion. Aber die Strömung trieb ihn allmählich gegen seinen Willen weiter, als er gewollt hatte; er schrieb schließlich solche Brandartikel, daß ihn selber ein Schauder packte, wenn er sie überlas. Besonderes Aufsehen erregte in Plassans eine Artikelreihe, worin der Sohn Persönlichkeiten angriff, die sein Vater allabendlich in dem berühmten gelben Salon empfing. Der Reichtum der Roudiers und Granoux˜ erbitterte Aristide so sehr, daß er alle Vorsicht vergaß. Von der neiderfüllten Bitterkeit des Hungrigen gestachelt, hatte er sich das Bürgertum zum unversöhnlichen Feind gemacht, als ihn Eugènes Ankunft und die Art, wie er sich in Plassans verhielt, stutzig machten. Er traute seinem Bruder große Geschicklichkeit zu. Seiner Ansicht nach schlief dieser dicke, schläfrig wirkende Mensch immer nur mit einem Auge, genau wie die Katze, wenn sie vor einem Mauseloch auf der Lauer liegt. Und nun verbrachte dieser Eugène ganze Abende im gelben Salon und hörte andächtig diesen Narren zu, die er, Aristide, so mitleidlos verspottet hatte. Als er durch den Stadtklatsch erfuhr, daß sein Bruder Herrn Granoux und daß der Marquis seinem Bruder die Hand schüttelte, fragte er sich beunruhigt, was er davon zu halten habe. Sollte er sich so sehr geirrt haben? Sollten die Legitimisten oder die Orléanisten irgendeine Aussicht auf Erfolg haben? Dieser Gedanke erschreckte ihn. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nun, wie es oft zu gehen pflegt, mit vermehrter Wut über die Konservativen her, um sich für seine Blindheit zu rächen.
    Am Vorabend des Tages, an dem er Eugène auf dem Cours Sauvaire anhielt, hatte er im »Indépendant« einen fürchterlichen Artikel über die Machenschaften des Klerus veröffentlicht; es war die Antwort auf eine kurze Notiz von Vuillet, der die Republikaner beschuldigte, sie wollten die Kirchen zerstören. Aristide konnte Vuillet auf den Tod nicht ausstehen. Es verging keine Woche, ohne daß die beiden Journalisten die gröbsten Beschimpfungen austauschten. In der Provinz, wo man die poetische Umschreibung noch pflegt, überträgt die Polemik die Gassenausdrücke in die gehobene Sprache. Aristide nannte seinen Gegner »Judasbruder« oder auch »Diener des heiligen Antonius«, während Vuillets galante Antwort den Republikaner als »mit Blut vollgesoffenes Ungeheuer, dessen gemeine Lieferantin die Guillotine43 gewesen«, bezeichnete.
    Um die Meinung seines Bruders zu erkunden, begnügte sich Aristide, der seine Unruhe nicht offen zu zeigen wagte, mit der Frage:
    »Hast du meinen gestrigen Artikel gelesen? Was hältst du davon?«
    Eugène zuckte leicht mit den Achseln.
    »Lieber Bruder, du bist ein Einfaltspinsel«, antwortete er gelassen.
    »Du gibst also Vuillet recht?« rief der Journalist erbleichend. »Du glaubst an den Sieg Vuillets?«
    »Ich? – Vuillet …« Er wollte wahrscheinlich hinzufügen: Vuillet ist genauso einfältig wie du. Aber als er das verzerrte Gesicht seines Bruders bemerkte, das sich ihm angstvoll zuwandte, schien ihn ein plötzlicher Argwohn zu befallen. »Vuillet hat sein Gutes«, sagte er mit großer Ruhe.
    Als sich Aristide von seinem Bruder trennte, fühlte er sich noch ratloser als zuvor. Eugène mußte sich über ihn lustig gemacht haben, denn Vuillet war wohl der schmutzigste Kerl, den man sich vorstellen konnte. Er schwor sich, hinfort vorsichtig zu sein, sich nicht weiter zu binden, um die Hände frei zu haben, falls er sich eines Tages veranlaßt sähe, irgendeiner der Parteien behilflich zu sein, die Republik abzuwürgen.
    Am Morgen seiner Abreise, eine Stunde bevor er in die Postkutsche stieg, zog Eugène seinen Vater ins Schlafzimmer und hatte dort eine lange Unterhaltung mit ihm. Félicité, die im Salon zurückgeblieben war, versuchte vergeblich zu horchen. Die beiden Männer sprachen so leise, als fürchteten sie, daß auch nur ein einziges ihrer Worte draußen gehört werden könnte. Als sie endlich aus dem Zimmer kamen, schienen sie sehr angeregt zu sein. Nachdem Eugène Vater und Mutter umarmt hatte, sagte er, dessen Stimme sonst so schleppend war, lebhaft und innerlich

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