Das Glück der Familie Rougon - 1
»Du brauchst nur Ruhe.«
Diesem angeblichen Unfall und der Abreise des Unterpräfekten hatte es der »Indépendant« zweifellos zu verdanken, daß er nicht wie die meisten anderen demokratischen Zeitungen des Departements behelligt wurde.
Der Tag des 4. Dezember verging in Plassans verhältnismäßig ruhig. Am Abend gab es eine Volkskundgebung, die das bloße Erscheinen der Polizei zerstreute. Eine Gruppe von Arbeitern verlangte von Herrn Garçonnet die Veröffentlichung der Pariser Depeschen, die er hochmütig verweigerte. Als sich die Gruppe zurückzog, rief sie: »Es lebe die Republik! Es lebe die Verfassung!« Dann kehrte alles zur Ordnung zurück. Nachdem der gelbe Salon diesen harmlosen Spaziergang ausführlich besprochen hatte, erklärte man dort, daß alles sich aufs beste anlasse.
Doch die Tage des 5. und 6. Dezember wurden aufregender. Man erfuhr nach und nach von den Aufständen in den kleinen Nachbarstädten; der ganze Süden des Departements griff zu den Waffen, La Palud und SaintMartindeVaulx hatten den Anfang gemacht und die Dörfer Chavanoz, Nazères, Poujols, Valqueyras und Vernoux nach sich gezogen. Jetzt befiel den gelben Salon ein panischer Schrecken. Was ihn vor allem beunruhigte, war, daß Plassans vereinsamt im Mittelpunkt der Revolte lag. Es hieß, daß Trupps von Aufständischen das Land durchzögen und jede Verbindung abschnitten. Granoux wiederholte immer wieder ganz verstört, daß der Herr Bürgermeister ohne jede Nachricht sei. Und die Leute begannen zu erzählen, in Marseille fließe bereits Blut und in Paris sei eine furchtbare Revolution ausgebrochen. Der Kommandant Sicardot erklärte, außer sich über die Feigheit der Bürger, er wolle an der Spitze seiner Leute in den Tod gehen.
Am 7. Dezember, einem Sonntag, erreichte der Schrecken seinen Höhepunkt. Von sechs Uhr an war der gelbe Salon, wo ohne Unterbrechung eine Art reaktionäres Komitee tagte, überfüllt von einer Menge blasser, zitternder Biedermänner, die leise miteinander sprachen, wie im Zimmer eines Toten. Im Lauf des Tages hatte man erfahren, daß eine etwa dreitausend Mann starke Kolonne von Aufständischen in Alboise zusammengezogen worden sei, einem höchstens drei Meilen entfernten Flecken. Zwar wurde behauptet, sie zöge nach der Hauptstadt des Departements und lasse Plassans links liegen; aber die Marschroute konnte geändert werden, und außerdem genügte es den ängstlichen Rentiers, die Aufständischen wenige Kilometer entfernt zu wissen, um sich einzubilden, daß rauhe Arbeiterfäuste sie bereits an der Kehle packten. Am Morgen hatten sie einen Vorgeschmack vom Aufstand bekommen: die wenigen Republikaner von Plassans hatten eingesehen, daß sie in der Stadt nichts Ernstliches wagen könnten, und darauf beschlossen, zu ihren Brüdern aus La Palud und aus SaintMartindeVaulx zu stoßen; eine erste Gruppe war gegen elf Uhr durch die Porte de Rome gezogen, hatte dabei die Marseillaise gesungen und einige Fensterscheiben eingeworfen. Eines der Fenster bei Granoux war beschädigt worden. Er berichtete diese Tatsache mit entsetztem Stammeln.
Der gelbe Salon schwebte indessen in bebender Angst. Der Kommandant hatte seinen Diener ausgeschickt, um die genaue Marschrichtung der Aufständischen in Erfahrung zu bringen, und jetzt erwartete man die Rückkehr des Mannes und stellte inzwischen die erstaunlichsten Vermutungen an. Die Versammlung war vollzählig. Roudier und Granoux, in ihren Lehnsesseln zusammengesunken, warfen einander klägliche Blicke zu, während hinter ihnen die bestürzte Schar der ehemaligen Kaufleute greinte. Vuillet, der nicht besonders entsetzt zu sein schien, überlegte, welche Vorkehrungen er treffen könne, um seinen Laden und seine Person zu schützen; er schwankte, ob er sich auf seinem Boden oder in seinem Keller verstecken solle, und entschied sich für den Keller. Pierre und der Kommandant gingen auf und ab und wechselten von Zeit zu Zeit ein Wort miteinander. Der frühere Ölhändler klammerte sich an seinen Freund Sicardot, um ein wenig von dessen Mut abzubekommen. Er, der die Krise schon lange erwartete, bemühte sich, eine gute Haltung zu bewahren trotz der Aufregung, die ihn fast erstickte. Was den Marquis betrifft, so hatte er sich mehr als sonst herausgeputzt und lächelte auch noch mehr; er plauderte in einer Ecke mit Félicité, die sehr vergnügt zu sein schien.
Endlich klingelte es. Die Herren fuhren zusammen, als hätten sie einen Gewehrschuß vernommen. Als Félicité
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