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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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dem deutlichen Gefühl, ihm die letzte Runde freigemacht zu haben auf seinem so gewissenhaften wie geheimnisvollen Lauf, in diesem Schlußkarree seines Lebens.
    Irgendwo, ganz weit hinten, als existiere ein Pendant im äußersten Winkel ihres Gartens, irgendwo wuchs ein Widerspruch gegen ihr angepaßtes Verhalten. Er hatte sie angeschrien, sie solle sich endlich mal beeilen, nicht immer so rumtrödeln bei allem, was sie tue. »Die Hälfte vergessen«, hatte er dann geschrien, und sie hatte nicht gewußt, ob er damit sie oder sich selber meinte. Sie hatte nur den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, der mehr Verblüffung als Zorn enthalten hatte, der Ausdruck von jemandem, der keinen Grund für seinen Kummer finden konnte. Aber das, was sie gesehen hatte, hatte sie beruhigt. So schwierig es auch gewesen war, nach dieser Unberechenbarkeit, nach seinem Toben wieder ruhig zu werden.
    Senta trocknete sich ab, ging dabei näher zum Zitronenbäumchen und stellte fest, daß die eine Zitrone, obwohl noch etwas grün, einfach abgefallen war. Sie hob sie auf, hielt sie in der Hand, als prüfe sie ihr Gewicht, und ging – das Handtuch um den Körper geschlungen, die Zitrone in der Hand – nach oben zum Haus.

S ie erwartete Michael in der Küche, wie sonst immer, aber er schien noch nicht aufgestanden zu sein. Die Ruhe des Hauses erfüllte sie mit einer genüßlichen Vorfreude, eine Mischung aus Zufriedenheit im Alleinsein und der Gewöhnung an die wohltuende Tatsache, gleich gebraucht zu werden.
    Sie öffnete das Vorratsglas, goß die Kaffeebohnen in das Edelstahlrund der Mühle, ihr Klimpern, wie Perlen, sie drückte den Schalter mit der Handfläche und horchte auf das mahlende Geräusch der Klingen, bis es im feinen Kaffeepulver verstummte.
    Es ist gut, dachte sie mit einem Mal, daß es nur uns zwei hier gibt, daß die Kinder nicht viel von Michaels Zuständen mitbekommen. Sie erzählte kaum etwas, die sie aus der Fassung bringenden Ereignisse verschwieg sie sowieso, und es war besser so. Warum die Kinder verunsichern, warum ihre Leben beeinflussen und Gefühle wecken, mit denen sie dann gar nicht klarkommen konnten. Sie konnte es.
    Konnte sie es?
    Sich die Antwort nicht erlauben. Den beruhigenden Geruch einatmen, salzig und bitter, dann wusch sie die Espressokanne unter laufendem Wasser aus, innen und außen, ein schwarzbrauner Mond in der Edelstahlspüle, der Kaffee von gestern, bis der Wasserstrahl ihn zerstörte, bis alle Krümel weggespült waren, den Abfluß gereinigt hatten. Diesen Mythos glauben, ja, das tat sie, sie glaubte solche Sachen, die sie in der Zeitung las oder von ihren spanischen Nachbarnhörte: Espressoreste schaffen es, Kakerlaken zu vernichten. Sie stellte den 8-Liter-Plastikkanister ab, behielt das milchweiße Plastikgefühl in den Händen und war zufrieden zu wissen, daß es mit dem Gartenschlauch, der Zahnbürste, den Mülltüten noch einmal abgerufen werden konnte, dieses künstliche Materialgefühl, mehr Plastik würde sie aber am Tag auch nicht anfassen. Das war ihr wichtig gewesen, ein Anliegen, das immer bedeutsamer wurde, je länger sie im Haus lebten: harmonische Proportionen und natürliche Materialien. Holz, Keramik, Kupfer, Steingut, Wolle, Porzellan, Edelstahl, sie ertrug nur noch Stoffe mit Eigenschaften, Plastik war ein Stoff ohne Eigenschaften, und daher konnte sie es physisch kaum noch ertragen, mit ihm im Supermarkt – oder selbst auf dem Markt, wo die Verkäufer noch einzelne Zitronen in flattrige Tüten packten – in Berührung zu kommen. Mit der Linken drückte sie den Regler am Gasherd, ein flackerndes Zischen, die bläulichgelbe Flamme umleckte die schwarze Sonne, bis sie die Kanne auf das Gitter stellte, sorgsam das Gewicht auf allen vier Schienenenden verteilte und einen Schritt zurücktrat.
    Der Geruch. Von ganz weit weg drängte er sich auf. Sie roch Kakerlaken, hatte sie mal festgestellt. Natürlich hatte sie Michael gegenüber nie ein Wort davon gesagt. Jorge, dem nächsten Nachbarn, schon. Er hatte ihr lachend erzählt, daß sie damit kein großes mediales Talent geworden sei oder so, seine Mutter habe diese Fähigkeit auch, wie die meisten Frauen, die viel Zeit ihres Lebens in der Küche verbracht haben. Sie traute sich ihm gegenüber nie zu sagen, daß sie in Berlin lange Zeit von Lydia bekocht worden waren. Vielleicht auch, weil sie an Lydia nicht denken wollte. Die kümmerte sich jetzt um Anton, der seit Michaels und ihrem Weggang im Eckhaus eingezogen war. Eine

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