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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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einen im Dickicht des Lebens verlorenen Neffen neben sich zu dulden schien, der wohl das Dichten oben im zweiten Stock des Hauses brauchte, um der Unnahbarkeit und menschlichen Kälte, die unten im Haus herrschte, zu entkommen. Aber er war bei den Damen geblieben. Vielleicht brachte er seine Trauer um sein ungelebtes, verhindertes Leben in seinen epischen Gedichten zum Ausdruck. Wie es schien, las niemand seine Werke, dort oben, in den Gängen der ehemaligen Mädchenschule, die er immer im Kreis herum an die Wände schrieb. Kurz dachte Senta darüber nach, jetzt einfach einmal nach oben zu gehen, es sich anzuschauen. Dann betrachtete sie Maria Conceptíon, wie man sie aus dem Sessel rausbekommen sollte?, und begann, die Hinterlassenschaften der Vögel zusammenzukehren.
    Als sie am frühen Nachmittag ihr Grundstück betrat – Jorge war mit dem Bestatter, dem örtlichen Apotheker, ins Haus zurückgekehrt – fand sie es seltsam verlassen vor. Michael war weder auf der Terrasse noch im Schatten des Sonnenschirmes unten am Pool zu sehen. Sie stob die Einfahrt hinauf, von der Wucht ihres schlechten Gewissens angetrieben, nicht Bescheid gegeben zu haben, wo sie den ganzen Tag gewesen war.
    Michael lag im Bett, verzweifelt und jähzornig mit einem Blick in den Augen, der sie erschrecken ließ, seine Lippen waren trocken, er wolle etwas trinken, wo sie denn gewesen sei, wie sie ihn einfach hatte verlassen können, seine Beine seien taub, er könne nicht aufstehen. Sie traute sich nicht, ihm nahe zu kommen, er schrie, spuckte dabei, fluchte, sein Gesicht war rot bis zum Hals. Er rappelte sich auf, griff nach dem Stoff ihres Kleides, krallte seine Hand hinein, zog sie zusich, sie fiel, weil sie nicht darauf vorbereitet gewesen war, auf ihn, er quetschte seine Hände in ihre Haut. Sie wehrte sich nicht. Sie versuchte nur, so weit weg zu kriechen, wie sie konnte, er griff sie an beiden Schultern, an den Armen. Sie zitterte, als friere sie, ihre Arme und alle Stellen, die er berührte, brannten. Sie kam nicht dazu zu sagen, wo sie gewesen war. Dann preßte er seine Lippen auf ihren Mund, sie zuckte zurück, er hatte sie aber fest in seinem Griff, er hörte mit dem verrutschten Küssen auf und sagte in einem Tonfall, der sie an die Stimme ihres jüngsten Sohnes erinnerte, als er noch Vorschulkind war: »Ich weiß es einfach.«
    »Was weißt du.«
    »Du kannst es gar nicht.«
    »Was kann ich nicht.«
    »Mich Lieben.«
    »Das stimmt nicht«, sagte sie sofort.
    »So ist es eben.«
    »Hör auf damit«, sagte sie streng, in einer Art, wie sie früher auch mit ihren Kindern gesprochen hatte.
    Er ließ sie los, sie rutschte ans Ende des Bettes und blieb dort erschöpft und reglos sitzen. Irgendwann flog draußen einer von Conceptíons Mönchssittichen vorbei, setzte sich wenig später auf die Fensterbank. Senta konzentrierte sich auf den Vogel, der ein wenig nach rechts, ein wenig nach links hüpfte, während Michaels Atem immer ruhiger zu werden schien. Sie schaffte es, während des Vogelbetrachtens, ihren Schmerz zu verschlucken und stand erst auf, als Michael leise, ein wenig heiser zu ihr sagte: »Nie wieder gehst du fort, wenn ich es dir nicht erlaube.«
    Eine Woche später war er tot. Die Taubheit hatte, seiner Wahrnehmung nach, seine Achseln erreicht, und er hatte nächtens neben ihr einfach das Atmen aufgegeben. Ohne daß sie durch das Rütteln eines vorbeifahrenden Airbusteils,durch einen Traum, durch eine vorbeihuschende Kakerlake oder irgend etwas anderes aufgeweckt worden wäre.
    Jetzt stand sie neben dem Bett und sah den Körper ihres Mannes unter dem weißen Laken. Friedlich, so schien es, ohne Angst vor den Schatten, die sich zwischen ihn und die Wände geschoben hatten. Sie schaute auf das Laken, den Boden, das Fenster, das Fliegengitter, sie erinnerte sich an die Vögel, wünschte sie alle herbei, schaute wieder auf das Laken, seinen Saum, auf die Körperform darunter, sie konnte ihrem Mann noch einmal kurz ins Gesicht sehen, aber näher kommen konnte sie ihm nicht.
    Sie umrundete das Bett. Sie wollte ihm nahe kommen, aber es war, als versuche sie gegen einen anders gepolten Magneten anzulaufen. Sie schloß die Augen, suchte alle Kraft zusammen, die sie meinte zu haben, dachte an ihre Kinder, die vier Söhne, die sie mit ihm gezeugt hatte, überwand den Widerstand, machte einen Schritt auf ihn zu, legte ihre Lippen auf seine Stirn, spürte das Wachshafte, das Nichtvondieserwelt, nahm wahr, daß er nach nichts mehr roch,

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