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Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Titel: Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Kiefer
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es um Leben oder Tod. Das fand ich später witzig, dass die Dringlichkeit am Narbenbild abzulesen ist.
    In der Not-OP wurde das Blut abgesaugt und die gequetschte Stelle an der Wirbelsäule entlastet. Niemand wusste, warum ich blutete. Die Wunde wurde trockengelegt, und ich bekam eine Drainage, damit Flüssigkeit abfließen konnte. Warum hatte ich in der Spezialklinik keine erhalten? War so was nicht normal nach Operationen?

    Wach wurde ich Donnerstagnachmittag. Kein Zeitgefühl. Und keine Ahnung, wo ich war. Um mich alles verschwommen. Noch immer unter Wasser? Ein bisschen. Und außerdem halb blind ohne Brille oder Kontaktlinsen. Die waren noch in der Spezialklinik. Nur meine Krankenakte flog mit mir nach Bayreuth. Ich öffnete die Augen, erkannte nichts, sackte wieder weg. Zwei Narkosen hinter mir. Schmerzmittel dazwischen.
    Schwimmen in der Cremesuppe, manchmal kopfunter. Wachen. Schlafen. Schwestern am Bett. Bei meinen kurzen Ausflügen ins Bewusstsein sammelte ich Eindrücke. Ein großer Raum. Links und rechts Trennwände. Dahinter Schnaufen. An der Decke ein grünes Landschaftsbild. Ich konnte erahnen, was es darstellte: Wald, Wiese, Hügel. Grün beruhigt die Nerven? Schwimmende grüne Landschaft. Schläuche. Gepiepse. Monitore. Das Geschnaufe und Geröchel rechts und links von meinem Bett ängstigte mich. Was war das? Wer war das? Was war hier überhaupt los? Ich fühlte mich nicht krank, bloß müde, grottenmüde, doch die Geräusche neben mir klangen elend und gruselig.
    Irgendwann standen meine Eltern an meinem Bett. Woher kamen die jetzt? Sie waren doch in Freiberg? Auf welchem Dampfer waren sie durch den Nebel zu mir geglitten? Ich erinnere mich an keine Worte. Als wäre ich taub, zu tief unter Wasser. Waren das wirklich meine Eltern? Meine Mutter sah seltsam aus. Stand sie unter Drogen oder ich? Ihr Blick so verhangen, so fremd, so weit weg und … Vati … Vati weinte! Nein, das konnte nicht sein. Vati hatte noch nie geweint. Wieso sollte er weinen und warum … so weich, weich wie Watte der Nebel.

    Später erzählten mir meine Eltern, dass auf dieser Station gerade umgebaut wurde, es gab kein Besprechungszimmer. Auf dem Flur, während Betten mit Patienten hin- und hergeschoben wurden, erklärte ihnen ein Arzt, was geschehen war.
    »Wir haben Ihre Tochter aus der Spezialklinik übernommen und im Kernspin festgestellt, dass sie innere Blutungen hat. Wir mussten notoperieren. Jetzt liegt bedauerlicherweise eine Lähmung vor, doch das sagt noch nichts, die ist am Anfang bei so einem Fall praktisch normal. Es bestehen gute Chancen, dass die Lähmung wieder zurückgeht.«
    »Elvi!«, rief mein Vater, denn meine Mutter drohte umzukippen. Sie bekam ein Beruhigungsmittel, und trotz meines eigenen Drogenrausches gelang es ihr nicht, den ihren an ihrer Tochter vorbeizuschmuggeln. Es war grauenvoll, so hilflos im Bett zu liegen und das Leid meiner Eltern nicht lindern zu können. Dass ich ihnen diesen Anblick antun musste! Die Tochter, verkabelt mit Dutzenden von Schläuchen inmitten sterbenskranker Menschen. Aber bald waren sie wieder weg. Und ich auch.

Nebelbänke
    »Wie war der Moment, als du mitgekriegt hast, dass du nicht mehr laufen kannst?«, werde ich oft gefragt. Diesen Moment gab es nicht. Er schlich sich an. Als könne er selbst nicht mehr laufen. Der Nebel lichtete sich und zog sich wieder zu, ich schlief ein. Gnadenfrist.
    Es war mir klar, dass die Operation nicht so verlaufen war, wie sie sollte. Gleichzeitig war mir das wiederum nicht klar, nicht in der ganzen Tragweite. Der Nebel wirkte wie ein Weichzeichner. Ich hatte andere Sorgen. Ein Problem war, dass mein Vater wegen mir weinte und ich ihn nicht trösten konnte. Ein anderes Problem war die Krankenschwester, die mir den Hintern abputzte. Das waren die Probleme, die mich akut beschäftigten.
    Manchmal bewegte ich meine Beine. Ich bewegte sie eindeutig – im Kopf. Aber die Befehle kamen nicht an. Ich spreizte meine Zehen. Nichts geschah. Ich spitzte meine Füße. Keine Antwort. Ich rief und rief und rief, aber niemand hörte mich da unten. Ungefähr ab dem Solarplexus hatten sie die Lautsprecher abgestellt. Ich sendete, es wurde aber nichts empfangen. Zum Glück begriff ich nicht, was das für meine Zukunft bedeutete, auch das kam nicht an. Im Nebel ist der Empfang miserabel.
    Rollstuhl, dachte ich irgendwann. Es hatte nichts mit mir zu tun. Die Fakten waren klar. Ich bewegte meine Beine, hatte im Kopf auch das Gefühl, sie zu bewegen,

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