Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
nie was passiert. Mir würde auch jetzt nichts passieren.
Am Abend vor der Operation wurde ich endlich auf einer anderen Station einquartiert. Irgendjemandem schien aufgefallen zu sein, dass ich bei den Lungenkrebspatienten falsch lag. Im Beisein von Andi klärte mich eine Ärztin über die Operation auf. Das Gewebe hänge an der siebten Rippe, ziemlich nah an der Wirbelsäule. Das sei ein gewisses Risiko, aber es werde schon nichts passieren.
»Es wird schon nichts passieren«, wiederholte ich leichthin und unterschrieb die Einwilligung zur Operation.
16. Juni 1999
An meine Henkersmahlzeit erinnere ich mich nicht, aber an meinen letzten Gang. Er führte mich auf die Toilette. Danach bekam ich eine Mir-ist-alles-Wurst-Tablette. Ein Schmerzkatheter wurde an meine Wirbelsäule gelegt. Ich sollte den Rücken krümmen. Die Tablette wirkte wunderbar: Es war mir vollkommen egal, dass eine Nadel in meine Wirbelsäule gestochen wurde. Ich sollte meine Arme und Beine hängen lassen.
»Spüren Sie was?«
»Es kribbelt.«
Dieses Kribbeln ist das letzte Gefühl in meinen Beinen, an das ich mich erinnere.
Als ich wieder bei Bewusstsein war, lag ich auf der Intensivstation. Dass ich mich in Bayreuth befand, ahnte ich nicht. Schließlich war ich 200 Kilometer entfernt von meiner neuen Heimat in Narkose versetzt worden – und fliegen konnte ich nicht … oder doch? Ich hatte von Hubschraubern im Nebel geträumt, und einmal war es mir vorgekommen, als hätte mich jemand auf einem Rollbett durch lange Gänge geschoben. Irgendetwas rasselte, und von weit hörte ich einen Dampfhammer. Der Lärm wurde immer lauter, dann sah ich mich in einem Helikopter, ein Arzt saß neben mir, und Andi stand in einem dunklen Gang an meinem Bett und streichelte meine Wange mit eiskalten Händen. Ja … und in den Hubschrauber war ich von hinten eingeladen worden … dass sich da überhaupt eine Tür befand … die ist doch sonst an der Seite? In Träumen ist alles möglich. Oder war ich wach? Ich war so müde und so schwer und fiel zurück in die Tiefen der Ohnmacht, trieb auf den Wellen der Narkosen, rauf und runter, mal tiefer, mal höher, schnappte nach Luft, doch über dem Wasser waberte der Nebel wie eine zähflüssige Cremesuppe, und das Bollern der Rotoren zerschnitt sie in kleine dreieckige Stücke, die wie Taschentücher auf dem Meer meiner Müdigkeit segelten.
Eine Stimme, die klang, als spräche sie in ein Rohr, sagte: »Wir schieben sie erst mal in den Kernspin.«
Wie konnte das sein? So was gab es doch in der Spezialklinik gar nicht. Das Rohr brach ab. Es rauschte. Grelle Blitze zuckten, versickerten im Grau. So müde und alles in Watte. Hin und wieder tauchte ein Puzzlestück meines Lebens auf, wie hochgetrieben aus einem versenkten Schiff, mit dem ein ganzer Tag untergegangen war. Am Mittwochmorgen wurde ich in der Spezialklinik operiert, und am Donnerstagnachmittag wachte ich in Bayreuth auf.
Weiter oben, dort, wo die Sicht klar war, wachten andere über mein Schicksal. Von ihnen erfuhr ich später, was sich zugetragen hatte. Nach der Operation in der Spezialklinik wurde ich dort auf die Intensivstation verlegt. Angeblich sei ich wach geworden und habe geklagt, ich könne meine Beine nicht bewegen. Daraufhin habe man mir den Schmerzkatheter an der Wirbelsäule gezogen. Doch auch ohne Schmerzkatheter habe ich meine Beine nicht bewegen können.
Panik breitete sich aus. Hektische Telefonate. Eine Klinik mit Kernspintomograph wurde gesucht, denn dieses Gerät – eigentlich Standard – fehlte in der Spezialklinik. Man musste sofort kontrollieren, was los war, um nach dem Befund weitere Schritte zu überlegen. Schweinfurt wurde angefragt, sagte ab, die Klinik war überbelegt. Bayreuth sagte zu. Der Hubschrauber war keine Einbildung. Nachts wurde ich nach Bayreuth geflogen. Andi wurde informiert. Er rief meine Eltern an. Mein Vater wollte sofort losfahren, meine Mutter hielt ihn zurück, jetzt könnten sie ohnehin nichts unternehmen, und in diesem aufgeregten Zustand sei das gefährlich: »Lass uns morgen ganz früh losfahren.«
Im Kernspintomograph in Bayreuth wurde festgestellt, dass es an der Operationsstelle zu inneren Blutungen gekommen war. Not-OP. Deshalb habe ich so unterschiedliche Narben. Die Narben von der ersten OP in der Spezialklinik befinden sich an der Seite, man sieht sie kaum: zart und dezent. Die Narben von der Not-OP erscheinen grob und wild. Da war keine Zeit für künstlerische Ambitionen. Da ging
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