Das Glück in glücksfernen Zeiten
verloren hat und verschwunden ist, entsteht in mir das Hintergrundgefühl einer geheimen Zugehörigkeit nicht, im Gegenteil, ich nehme im Inneren sogar die Gestalt des Hundes an und fürchte, gleich ebenfalls meinen Platz einzubüßen. Wenn ich bellen könnte, würde ich es jetzt tun, auch umherfauchen würde ich gerne und drohende Rachenlaute ausstoßen. Nichts davon ist mir gegeben. Ich sitze ein wenig verhangen über meinem Mohnstreuselkuchen, zittere mit der Kuchengabel in der Hand und betrachte einen Behinderten, der im Rollstuhl durch das Foyer geschoben wird. Ich werde aufmerksam auf einen Vater mit seinem Kind, die nicht weit von mir an einem Tisch sitzen. Das Kind hat Nudeln bestellt, aber als der Kellner die Nudeln bringt, will das Kind lieber Knödel mit Fleisch. Der Vater sagt: Du hast Nudeln bestellt, jetzt iß bitte die Nudeln. Das Kind sagt: Zu Hause hat die Mami Knödel und Fleisch gekocht. Der Vater sagt: Wir sind nicht zu Hause, du hast Nudeln bestellt. Das Kind legt sich auf die Sitzbank und ißt nichts. Der Vater zieht den Nudelteller des Kindes zu sich heran und fängt an zu essen.
In dieser Situation stoße ich mit dem Ellbogen meinenMohnstreuselkuchen samt Teller auf den Boden hinunter. Als die Ladung dort aufprallt, zerfällt der Kuchen in mehrere Teile. Das heißt, ein vergleichsweise großes Stück Kuchen kullert ein Stück weit in die Hotelhalle. Mehrere der Rentner, die bis eben dem Hund nachgeschaut haben, wenden den Kopf in meine Richtung. Ich kann ihre zwischen den Kuchenstücken und mir hin- und herflitzenden Blicke nur schwer ertragen. Ich muß aufpassen, es nähert sich mir ein Verrücktheitsgefühl, das sich für wahrer hält als alles andere. Wenn ich mich bedroht fühle durch Fremdheit und Ausgeschlossensein, stelle ich mir (normalerweise) vor, das mich bedrohende Ereignis liege schon Jahre zurück; wenn ich Glück habe, muß ich dann lachen über die damaligen Verworrenheiten. Schon oft ist es mir auf diese Weise gelungen, ein gegenwärtig auf mich eindringendes Ereignis in ein weit zurückliegendes zu verwandeln. Aber diesmal scheint mir diese Verwandlung nicht zu gelingen. Mir gefällt das Geräusch eines Spezialfahrzeugs, das draußen vor dem Hotel volle Flaschencontainer entleert. Eine Sturzflut von zerbrechendem Glas ergießt sich in einen Anhänger. So ungefähr würde es klingen, wenn ich die ganze Welt gegen eine Wand werfen könnte. Nichts geschieht. Das Geräusch des zerbrechenden Glases hilft mir nicht. Eine jüngere Frau schaut mich mit langen Blicken an. An ihrem Zittern erkenne ich, sie will nichts von mir, sie durchlebt ihrerseits eine Anspannung. Das Kind, das eben noch Knödel und Fleisch verlangt hat, will nun doch die Nudeln. Der Vater sagt: Die Nudeln habe ich gerade gegessen. Dieser pointenlose Ablauf kommt mir sehr authentisch vor. Ich könnte die schreckliche Situation beenden, indem ich die größeren Kuchenstücke mit der Hand aufhebe und mir an der Rezeption eine Schaufel und einen Handbesen geben lasse, um die Reste aufzukehren. Aber es gibt einen Sog in mir, der eine Konfrontation will.Ich fühle den Drang, zeigen zu müssen, daß ich nicht alles tue, was von mir erwartet werden kann. Dann geschieht es. Ich rutsche von meinem Barhocker herunter und zertrete die heruntergefallenen Kuchenstücke. Ich sehe die entsetzten Gesichter der Rentner und einiger Hotel-Angestellten. Ein junger Mann verläßt die Rezeption und kommt auf mich zu.
Entschuldigen Sie vielmals, sage ich, es tut mir leid, ich übernehme die Reinigungskosten.
Beinahe hätte ich hinzugefügt: Ich komme von der Großwäscherei Eigendorff, die ist auf solche Fälle bestens vorbereitet.
Zum Glück kann ich den Mund halten.
Der junge Mann führt mich aus dem Hotelfoyer hinaus. Ist alles in Ordnung? fragt er.
Ja, antworte ich.
Soll ich einen Arzt rufen? fragt er.
Nein nein, vielen Dank, sage ich.
Zum Glück verlangt der junge Mann nicht meine Personalien oder sonstige Auskünfte. Das war knapp. Offenbar muß ich nicht einmal für die von mir verschuldete Reinigung aufkommen. Auch meinen Milchkaffee und den Kuchen muß ich nicht bezahlen. Der junge Mann läßt mich fühlen, daß es sich dabei nicht um eine Gefälligkeit handelt. Man ist froh, mich los zu sein.
Ich durchquere rasch eine Zufahrtsstraße und betrete einen riesigen Parkplatz. Momentweise ist mir nicht klar, wo ich den Firmenwagen geparkt habe. Auch ich bin froh, daß ich nicht mehr in dem Hotel bin. Der Rückzug macht mich
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