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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Nebentisch hat sich schon an meinen Anblick gewöhnt und redet weiter über die Freiheit, aber ich höre ihm nicht mehr zu. In der merkwürdigen Kälte, die nach einem Schreck übrigbleibt, vertilge ich die dritte Kalbsrückenscheibe und trinke dazu Wein. Die beiden verschwitzten Mädchen bleiben an meinem Tisch stehen. Ich sage ihnen nicht, daß sie weggehen sollen. Ich werde in Ruhe zu Ende essen, dann zahlen und ebenfalls nach Hause gehen. Vermutlichsorgt sich Traudel mehr um mich als um sich selbst. Der Ober kommt an den Tisch und fragt, ob er Traudels zurückgelassenen Teller abräumen soll. Ich nicke. Danach greift er nach Traudels halbvollem Weinglas und will dieses ebenfalls wegtragen. Ich sage ruhig: Das lassen Sie bitte hier. Der Ober entschuldigt sich knapp und stellt Traudels Weinglas zurück auf den Tisch. Ich überlege, ob ich nicht doch Angst habe. Aber eine Angst, über die ich nachdenken kann, ob es sie gibt oder nicht, kann keine wirkliche Angst sein. Ich trinke zuerst mein Glas leer, dann das Glas von Traudel. Wie sonderbar, sagt die Angst, Traudel ist weggelaufen, aber nicht wirklich. Sie fährt allein zurück in die Wohnung, in die ich ebenfalls zurückkehren werde. Es ist ein bißchen unheimlich, aber wir landen immer wieder in dieser Wohnung. Ich lasse mir die Rechnung bringen und zahle. Die beiden Mädchen bleiben an meinem jetzt leeren Tisch zurück und schauen mir traurig nach.
    Draußen kommt ein Wind von rechts und beugt die Äste der Bäume, so daß die hellgrüne Oberseite der Blätter momentweise verschwindet und die silbergrünen Unterseiten leuchten. Die meisten Häuser sind vollständig eingedunkelt. In kaum einem Fenster brennt noch Licht. Die Autos sind so eng hintereinander geparkt, daß ich nicht zwischen ihnen hindurchkomme, ohne mir die Hosenbeine zu beschmutzen. Über mehrere Autodächer hinweg sieht mich eine Streunerin an. Sie trinkt eine Bierdose leer und zerdrückt die Blechdose dann mit zwei Händen. Von vorne kommt ein Hund, von hinten ein Motorrad. Der Hund gibt keinen Ton von sich, das Motorrad macht einen Riesenlärm.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
SECHS
    Auf der anderen Seite der Straße ist das Kulturamt. Dort muß ich hin. Im selben Haus befindet sich das Sozialamt (2. Stock), das Rechtsamt (1. Stock); welches Amt im 3. Stock arbeitet, weiß ich nicht; ganz oben jedenfalls, im 4. Stock, ist das Kulturamt untergebracht. Das hat mir Dr. Heilmeier am Telefon gesagt, als ich ihm mein Anliegen vortrug. Er war überraschend freundlich; es erstaunte mich, daß er mich ohne Umschweife zum Besuch des Kulturamts aufforderte, was in Kürze geschehen wird. Im Augenblick halte ich mich in einem großen, unübersichtlichen, ein wenig heruntergekommenen Café gegenüber vom Kulturamt auf. Die Menschen setzen sich überall hin, egal, ob es zu laut, zu stinkig, zu häßlich, zu eng oder zu schrill ist. Sie setzen sich hin und schauen und hören sich an, was zu laut, zu stinkig, zu häßlich, zu eng und zu schrill ist. Ich werde etwa zwanzig Minuten brauchen, um mich innerlich auf den Besuch bei Dr. Heilmeier vorzubereiten. Ich möchte die Ereignisse, bevor sie eintreten, sozusagen vorab erleben. Für das Gespräch mit Dr. Heilmeier veranschlage ich eine halbe Stunde. Danach muß ich schnellstens zurück in die Wäscherei, ich verbringe hier nur meine Mittagspause, die ich freilich ein bißchen dehnen darf, falls nötig. Die Beobachtung des Eingangs des Kulturamts ist eine gute Technik der Vorabeinfühlung. Die Leute, die hier ein und aus gehen, ähneln zwar den Menschen, die überall ein und aus gehen, aber trotzdem sage ich mir: Es sind besondere Menschen, die in einem Kulturamt zutun haben, und beruhige mich dabei. Ich trage den besseren meiner beiden Sakkos, weil mein Zweitsakko inzwischen so formlos und mitgenommen ausschaut, daß Traudel mir abrät, mich darin noch irgendwo zu zeigen. Ich betrachte eine dickliche junge Frau von hinten, ihr Pulli ist ein wenig hochgerutscht, so daß ihre speckige Hüfte zu sehen ist. Ein Schwarm Rentner betritt das Lokal; sie bleiben am Eingang stehen und warten, bis ein Tisch frei wird. Auf den Anblick ihrer flehentlichen Halbverlassenheit reagiere ich mit einem kleinen Existenzzittern. Ich trinke die Hälfte meines Cappuccinos auf einmal weg, weil mir die Beklemmung durch die Rentner zu nahe geht und ich sie außerdem nicht verstehe. Ich betrachte die Speckhüfte der jungen Frau am Nebentisch, was

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