Das Glück in glücksfernen Zeiten
ich auch nicht tun sollte. Denn es ist mir schon längst aufgefallen, daß mich der fleischige Ring zwischen Gürtel und Pulli an meine tote Mutter erinnert, an die ich jetzt nicht erinnert sein möchte. Ich ermahne mich, du solltest dich jetzt nicht deiner Mutter schämen oder ihr sonstwie nachhängen, denn du gehst gleich ins Kulturamt und solltest jetzt ein paar rasante, kulturell eindrucksvolle Sätze vorformulieren, die du dann ohne Hemmungen aufsagen kannst. Meine Mutter hatte zwischen Brust und Hüfte einen erheblichen Speckgürtel, der mich als Kind oft beglückte. Meine Mutter ließ sich von mir gern umfassen und achtete nicht darauf, auch später nicht, wenn ich ihr im Eifer des Umarmens zwischendurch an die Brust faßte. Daß meine Mutter zwei Brüste hatte, beruhigte meine kindliche Vorratsgesinnung. Ich hatte als Kind tatsächlich die Vorstellung, ich sei der Besitzer der Brüste meiner Mutter. Ich war beruhigt und momentweise sogar sorgenfrei, wenn ich dabei zusehen konnte, wie sich meine Mutter mehrfach am Tag von oben in den Ausschnitt griff und eine der beiden irgendwie verrutschten Brüste wieder ordentlich in den Büstenhalter zurückschob.Sie lachte mich an, wenn sie merkte, daß ich sie dabei beobachtete.
Die Rentner haben Platz gefunden, ich trinke meine Tasse leer und zahle. Der Verkehrslärm draußen kommt mir plötzlich wie eine geheimnisvolle Bestätigung meiner Absichten vor. Inmitten dieser Geräusche gehst du unaufhaltsam voran und bereitest dein neues Leben vor. Im Fahrstuhl befindet sich eine junge Frau, die einen Stapel Papiere seitlich von sich weghält und mich nicht anschaut. Das Kulturamt besteht aus einem schmalen Gang, von dem links und rechts ein paar Türen abgehen. Ich strebe an der ersten (offenen) Tür vorbei, da stoppt mich eine weibliche Stimme.
Wen darf ich bitte anmelden, fragt eine Empfangsdame. Ich bin mit Herrn Dr. Heilmeier verabredet, sage ich.
Ich muß Sie trotzdem nach Ihrem Namen fragen, sagt die Frau.
Warlich, sage ich, Gerhard Warlich.
Ich muß warten, die Empfangsdame telefoniert, ich hole ein Exposé aus meiner Aktentasche heraus.
Die letzte Tür links, sagt die Dame.
Ich habe die Tür noch nicht erreicht, da tritt ein Mann in mittleren Jahren auf den Flur heraus. Er trägt einen hellen Anzug und ein offenes Hemd, er weist mir mit der Hand den Weg in sein Büro und sagt:
Sie kommen in einem günstigen Augenblick. Die Stadt trägt sich schon länger mit der Absicht, eine Pop-Akademie zu eröffnen.
Das Wort Pop-Akademie läßt mich kurz erstarren. Eine Pop-Akademie ist das krasse Gegenteil dessen, was mir vorschwebt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie dieses Wort mit meinen Absichten in Verbindung gebracht werden konnte.
Die Politik muß darauf reagieren, sagt Dr. Heilmeier, daß die Menschen soviel Freizeit haben und daß nur wenige mitder überflüssigen Zeit etwas anfangen können. Da müssen wir helfen!
Mit einem derartigen Mißverständnis habe ich nicht rechnen können. Wahrscheinlich bin ich schockiert. All die Sätze, die ich mir im Café zurechtgelegt habe, sind mit einem Schlag unbrauchbar geworden. Wahrscheinlich müßte ich, mit höchstem diplomatischem Geschick, ein paar Tatsachen ins rechte Licht rücken. Allerdings bin ich so verdattert, daß mir jegliches Geschick abhanden gekommen ist.
Sie haben mir doch ein Exposé mitgebracht, oder? fragt Dr. Heilmeier.
Ja, gern, bitte, sage ich und reiche ihm mein Papier, das mir im Augenblick hoffnungslos vorkommt.
Danke, sagt Dr. Heilmeier, schaut kurz auf das Papier und sagt: Nur eines müssen Sie ändern! Der Name der Akademie! Schule der Besänftigung! Das klingt, Verzeihung, das klingt nicht sehr gegenwärtig! Wir brauchen einen flotten, mitreißenden Titel. Sie wollen doch die Jugend erreichen, nicht wahr?
Ich nicke.
Ich habe schon mit meinem 18jährigen Sohn über die Schule der Besänftigung gesprochen, sagt Dr. Heilmeier, das geht total in die Hose, sagt mein Sohn, Sie verstehen. Meiner Frau hat der Name allerdings gut gefallen, aber meine Frau arbeitet ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz und will kein Popstar werden.
Dr. Heilmeier lacht, ich lache ein wenig mit, nicht, weil ich Dr. Heilmeier lustig finde, sondern weil mir plötzlich eine unerwartete Hoffnung zufließt. Ich habe den Eindruck, daß mir das Mißverständnis Vorteile bringen wird. Das Wort Pop-Akademie beflügelt Herrn Dr. Heilmeier, es ist offenkundig, daß er sich für eine Pop-Akademie viel stärker
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