Das Glück in glücksfernen Zeiten
niemand vorbei, den ich kenne. Statt dessen beginnt es mir zu gefallen, eine Scheibe Brot körpernah mit mir herumzutragen. Ich bilde mir schon fast ein, daß eine sanfte Beruhigung von dem Brot ausgeht. Manchmal nehme ich das Brot heraus, schaue es an und denke: ahhh, mhm, ja, tja, also – und stecke es zurück in die Anzugtasche. Gleichzeitig blicke ich unverhohlen umher, ob mich jemand beobachtet. Wenn ich im Zweifel bin, ob ich heimlich verrückt geworden bin, schaue ich mir echte Verrückte an. Zum Beispiel fährt ein dicker Mann auf einem Fahrrad in der Stadt herum, steuert zuweilen mit hoher Geschwindigkeit auf einen einzelnen Passanten zu, bremst vor diesem scharf ab, beschimpft ihn eine Minute lang und fährt dann weiter. Es genügt, mir diese armen Menschen nur fünf Minuten lang anzuhören und anzuschauen, und ich weiß wieder, daß ich nicht zu ihnen gehöre. Echte Verrückte sind laut, aggressiv, pöbelnd, unberechenbar. Ich dagegen bin leise, duldsam und verhuscht wie ein vergessener Fisch in einem Aquarium. Tatsächlich aber wird die Verlockung, jemandem anstelle meiner Hand die Scheibe Brot entgegenzuhalten, von Schritt zu Schritt stärker. Da kommt mir Annette entgegen, eine Jugendliebe von mir, an ihrer Seite ein junger Mann, vermutlich ihr Sohn. Wir lächeln und gehen aufeinander zu. Annette würde verstehen, wenn ich ihr anstelle meiner Hand eine Scheibe Brot entgegenhalte. Wir haben schon als Kinder viel miteinander gekichert. Unsere Geschichte begann aneinem Sonntag im Kindergottesdienst der Lukas-Kirche. Durch Zufall saßen wir nebeneinander, ich schenkte ihr meine drei Heiligenbildchen, die ich in meinem Gesangbuch aufbewahrt hatte. Annettes Gesicht leuchtete, als sie plötzlich zu ihren eigenen Heiligenbildchen noch drei weitere in ihrem eigenen Gesangbuch aufbewahren durfte. Sonntag für Sonntag saßen wir nebeneinander im Gottesdienst wie ein früh gealtertes Kinderehepaar. Jahre später, im Konfirmandenunterricht, begehrten wir uns wahrscheinlich am heftigsten. Sie war jetzt dreizehn, ich vierzehn. Nach dem Konfirmandenunterricht schlossen wir uns in einer Toilette des Gemeindesaals ein und warteten, bis es ganz still geworden war. Ich küßte Annettes stets aufgesprungene Lippen, sie zeigte mir ihre wunderlichen kleinen Brüste. Es waren nur geschwollene Brustwarzen, die von Woche zu Woche wuchsen. Am meisten gefielen mir die winzigen weißen Härchen, die rund um die Brustwarzen gerade noch zu fühlen waren. Wenige Wochen später besuchte Annettes Mutter meine Mutter und beschwerte sich über mich. Tatsächlich empörte sich auch meine Mutter und verlangte von mir, Annette in Ruhe zu lassen. Es gelang unseren Müttern, uns auseinanderzubringen, jedenfalls einige Jahre lang. Dann traf ich Annette wieder in einem unansehnlichen Vorort, in dem ich zu dieser Zeit ein Appartement bewohnte. Annette war jetzt zweiundzwanzig, verheiratet und schob einen Kinderwagen. Ich war dreiundzwanzig und Student. Schon nach wenigen Minuten ergriff uns die nie verschwundene Zuneigung. Annette sah immer noch so aus wie mit dreizehn. Sie hatte dasselbe schmutzigblonde Haar, dasselbe knochige Gesicht, dieselbe magere Figur und die immer noch aufgesprungenen Lippen. Zu meinem Appartement war es nicht weit. Im Fahrstuhl begann das Kind zu greinen. Annette versuchte, das Kind zu beruhigen, ohne Erfolg. Im Appartement legteAnnette den Säugling auf mein kleines Sofa und machte ihn frisch. Es tut mir leid, sagte Annette mehrmals und sah entschuldigend zu mir. Zum ersten Mal roch ich, wie ein Baby mit einer vollen Windel riecht. Annette reinigte den Säugling, cremte ihm das Hinterteil ein und legte eine frische Windel an. Trotzdem beruhigte sich das Kind nicht. Annette nahm das Kind (einen Jungen) auf den Arm und trug es eine Weile im Appartement umher. Das Greinen hörte nicht auf. Annette legte Bluse und Büstenhalter ab. Sie lachte leicht zu mir herüber, weil wir uns in diesen Augenblicken an unsere Nachmittage in der Toilette des Gemeindesaals erinnerten. Tatsächlich glaubte ich, in wenigen Augenblicken Annettes wunderbare Kinderbrüste wiederzusehen. In Wahrheit war ich kurz danach erschüttert über den Anblick von leer gesaugten, flachen, fladenartig herunterhängenden Brüsten. Am liebsten wäre ich verschwunden, aber das war nicht erlaubt. Annette legte sich das Kind erst an die linke, dann an die rechte Brust. Ich sah widerwillig dabei zu und konnte mir nicht klarwerden über meine Empfindungen. Nach
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