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Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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Schirmchen und
grün gefärbter Cocktailkirsche in der Hand. Dóra
bedankte sich und nannte ihre Zimmernummer. Die Bedienung wollte
gerade wieder gehen, als Dóra sie fragte: »Kennst du
vielleicht jemanden, der besonders viel über den
Vulkanausbruch und die damaligen Lebensumstände weiß?
Jemand, der bereit wäre, mit uns darüber zu
reden?«
    Die Frau
musterte Dóra. »Willst du dir nicht einfach den Film
über den Ausbruch angucken? Der ist sehr beliebt.« Sie
schaute auf die Uhr. »Die nächste Vorstellung beginnt in
einer knappen Stunde.«
    »Nein,
das bringt nichts. Ich suche jemanden, der mir ein paar {214
}Fragen über die Leute von damals beantworten kann.«
Dóra lächelte und hoffte, dass die Frau nichts
Näheres wissen wollte.
    Die Bedienung
zuckte mit den Schultern. »Es gibt hier eine ganze Menge
Leute, die gerne über den Vulkan reden. Die meisten
möchten von ihren eigenen Erlebnissen erzählen, aber ich
habe den Eindruck, du willst etwas anderes hören.«
Dóra nickte. »Da fällt mir am ehesten Paddi ein,
der weiß sehr viel. Man sagt, er hätte die Insel nur ein
einziges Mal verlassen, und zwar in der Nacht, als der Vulkan
ausgebrochen ist. Deshalb weiß er viel über die Leute
hier. Außerdem redet er unheimlich gerne – dem muss man
nichts aus der Nase ziehen.«
    »Wo
können wir ihn finden?«, fragte Dóra
gespannt.
    »Er hat
ein Touristenboot zum Hochseeangeln«, antwortete die Frau.
»Am besten bucht ihr eine Fahrt bei ihm, sonst spricht er
vielleicht nicht mit euch. Er ist ständig unterwegs.«
Sie lächelte die beiden an. »Soll ich ihn für euch
anrufen?«
    Dóra
bedankte sich und bat die Frau, irgendeine Fahrt für sie zu
reservieren, einen Ausflugs- oder Hochseeangeltrip. Sie nippte an
ihrem Drink und genoss den süßen Kokosgeschmack.
»Tja«, sagte sie, »dann schmeißen wir uns
mal in die Ölklamotten.«
    Leifur
saß bei seinem Vater im Schlafzimmer, das die Familie im
Erdgeschoss für ihn eingerichtet hatte, als Klara nicht mehr
neben ihm im Ehebett schlafen konnte. Magnús hatte sie
ständig geweckt und verwirrt gefragt, wo er war, wie spät
es war oder einfach nur, wer er war. Als nächtliche
Wutanfälle hinzukamen, hatte Klara genug gehabt. Es hatte zwei
Möglichkeiten gegeben: Ihn in ein Heim zu stecken oder zu
Hause Vorkehrungen zu treffen, damit sie nicht rund um die Uhr auf
ihn aufpassen musste. Leifur saß auf der Bettkante und
starrte die Bücherregale an – das Einzige, was noch von
dem ursprünglichen so genannten Hausherrenzimmer übrig
war. Alles andere war im Keller und würde nach dem Tod seiner
Eltern an fremde Leute gehen oder auf die Müllkippe wandern.
María und er hatten keinen Platz dafür, und {215 }seine
Kinder wollten keine gebrauchten Möbel, auch nicht, wenn es
Erbstücke waren. Obwohl die viel stabiler waren als moderne
Möbel. Sein Sohn hatte, seit er vor acht Jahren zu Hause
ausgezogen war, bestimmt schon mehr Sofas besessen als seine Eltern
in ihrem ganzen Leben. María quengelte ständig, sie
sollten das Haus renovieren, alle Möbel austauschen oder das
Haus gleich verkaufen und ein neues bauen. Er hatte sie
vertröstet, wusste aber, dass er früher oder später
nachgeben musste, wenn er sie nicht verlieren wollte. In der
letzten Zeit hatte sich ihr Verhalten geändert – sie
verlangte immer noch dieselben Dinge, aber weniger vehement. Das
machte ihm Angst, denn er wusste, dass Resignation oft der
Vorläufer tiefgreifender Einschnitte war. Vielleicht war es
ihr erster Schritt Richtung Freiheit, nach der sie sich so sehr
sehnte und die ihrer Ansicht nach in Reykjavík lag –
die Freiheit, einzukaufen und von einem Café zum anderen zu
flanieren, die Freiheit, sich von ihren Freundinnen um ihr
luxuriöses Leben beneiden zu lassen. Wenn sie Leifur verlassen
würde, hätte sie immer noch genug Geld, um sich alles
leisten zu können, was sie wollte.
Gütertrennungsverträge waren bei ihrer Heirat noch nicht
üblich gewesen, und Leifur wäre im Traum nicht auf die
Idee gekommen, seiner Braut so etwas zuzumuten.
    Er
löste seinen Blick von der altmodischen Regalwand, die sich
schon leicht neigte. Leifur betrachtete seinen schlafenden Vater,
aus dessen Gesicht nun jegliche vertrauten Merkmale verschwunden
waren. Er war blass, und die kräftigen Wangenknochen waren
eingefallen, sodass seine Lippen und sein Mund unnatürlich
groß wirkten. Seine Haut und seine Lippen waren fleckig, und
in seinem Mundwinkel schimmerte Spucke. Leifur schaute weg. Es

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