Das göttliche Dutzend
morgen das Zeitliche segnest. Einverstanden?«
Syffel nippte an seinem Bier und schaute den Mietprediger an.
»Morgens oder nachmittags?« knurrte Zorn mißmutig.
»Gleich morgens als allererstes. Wie paßt dir eine Enthauptung?«
»Wunderbar.« Zorn entschied sich, seine Kehle in den letzten Stunden noch mal richtig auszulasten. Mit einem Lächeln trank er das Bier aus, wischte sich den Mund am Ärmel der Soutane ab und schwenkte den Becher zum Nachfüllen. »Ach ja, wozu genau soll ich die gequälten Seelen eigentlich bekehren?« fragte er.
»Du trinkst es die ganze Zeit«, feixte Syffel. Jetzt wußte er genau, daß Lyblichs Tage an der Hohen Tafel gezählt waren. »Also, bis morgen muß ich noch ein paar Sächelchen erledigen. Nur ein paar Kleinigkeiten, um die ich mich kümmern muß. Geh nicht weg.« Und Syffel, die kommandierende Gottheit des Bieres, verschwand in einem Lichtblitz.
Zu den großen Vorteilen, die Axolotl Wesen von spiritueller Herkunft bot, gehörte es, daß sie sich nicht zu verstecken brauchten. Da die gesamte Bevölkerung der Gebirgsstadt Axolotl überaus abergläubisch war und unbeirrbar an alles Ominöse und Prophetische glaubte, war niemand je überrascht, wenn unerwartet seltsame Gestalten auftauchten.
Und Xxoe war keine Ausnahme. Sie setzte sich in ihrer Hängematte auf und starrte an die Stelle, an der ein Kugelblitz sich vor einer Sekunde in eine sehr viel solidere Form verwandelt hatte.
»Hallo!« sagte sie zu der bierbäuchigen Gottheit, die in ihrem Hängemattenzimmer stand. Sie warf eine schwarze Haarsträhne über ihre Schulter und schaukelte.
»Hallo, Kleine«, antwortete Syffel mit einem – wie er hoffte – beruhigenden Lächeln. »Bereit für den Morgen?«
»Bin ich, wenn ich erst mal die Nacht durchgeschlafen habe«, erwiderte Xxoe. »Was willst’n du?«
»Ich will dafür sorgen, daß du heute nacht gut schläfst.« Er grinste in dem abgedunkelten Zimmer. Es war eigentlich gar keine Lüge. Wenn er mit ihr fertig war, war sie für die Welt im wahrsten Sinne des Wortes gestorben.
»Das ist lieb. Willst du mich zudecken? Oder mir vorlesen?«
»Ooooh nein, mein Schatz. Ich habe etwas viel besseres.« Mit einem schwachen Leuchten erschien ein großer Bierhumpen in ihren Händen. »Trink das«, drängte Syffel. »Es hilft dir beim Einschlafen.«
»Wie Kakao?«
»Mehr oder weniger.«
»Aber ich habe meinen Kakao schon getrunken«, erwiderte Xxoe verwirrt.
»Es ist kein Kakao, es ist B … ähm … etwas ganz Besonderes für eine besonders nette Kleine. Man wird ja schließlich nicht jeden Morgen geopfert, oder?«
»Nein, nur einmal im Jahr.« Xxoe lächelte stolz. Es war eine besondere Ehre, für die alljährliche Totengräberparade auserwählt zu werden. Nicht nur für sie, auch für ihre Eltern. Obwohl diese tief und fest schlafend in den Hängematten im Nebenzimmer schaukelten, lächelten auch sie stolz. Morgen, beim Fest, würden sie am Kopf der Tafel sitzen – und was noch viel wichtiger war: Xxoes Mutter konnte hochnäsig auf alle anderen abgelehnten Teenies runtergucken, die Xxoes Platz niemals einnehmen würden.
Opferungen waren nur etwas für brave Mädchen, nicht für die lüsternen, geilen Luder.
Xxoe sprang rasch aus ihrer Hängematte, lief zum Vorhang und zog ihn zur Seite. Sie deutete quer über den Platz auf die dunkle Silhouette eines Tempels, dessen gezackte Mauern wie die Stufen einer Pyramide anstiegen.
Syffel konnte die ebenso dunklen Umrisse zweier hünenhafter Wächter mit Fackeln erkennen, die auf dem Flachdach umhergingen. Traditionell durfte sich bis zum Morgengrauen niemand dem Opferinstrument nähern. Dann wurde Xxoe dorthin geführt und geopfert. Zum wiederholten Mal.
Sechsmal hatte sie sich der glänzenden Klinge auf dem Dach des Tempels gestellt, und sechsmal war sie danach zum Fest gegangen. Das alles ging seit Jahrhunderten so, nachdem die Totengräbergewerkschaft erkannt hatte, daß es mehr als ungerecht war, daß ihnen sämtliche Feste in Axolotl entgingen. Die Bauern hatten ihr Erntefest, bei dem sie einen Teil der Ernte als Opfergabe für das nächste Jahr kochten. Dies war zumindest ihre Ausrede. War die Messe erst mal vorbei, hieß es ›Lätzchen um und reinschaufeln‹. So ähnlich ging es beim alljährlichen Brauerfest zu, beim Zuckerbäcker-Naschtag … Die Liste war endlos. Jeder feierte bei jedem mit – bis auf die Totengräber, die bei den Einladungen stets übergangen wurden. Also hatten sie die alljährliche
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