Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
endlich hinter sich bringen? Wenn die über die Lebenden herrschen und du nicht zu den Lebenden gehörst, warum dürfen die entscheiden, ob du deinen Job gut machst oder nicht?“
Gedankenversunken starrte Henry auf den in der Sonne funkelnden See.
„Sie sind diejenigen, die dir die Unsterblichkeit gewähren können, nicht ich. Zu Beginn hätten sie diese Entscheidung vielleicht mir überlassen. Aber die Fehler, die ich bei Persephone begangen habe, haben die Meinung des Rats über mein Urteilsvermögen beeinflusst.“
Ich knirschte mit den Zähnen, als er Persephone erwähnte, und ein wachsender Hass nagte an mir. Selbst wenn es seine Taten gewesen waren, weswegen sie ihn nicht geliebt hatte – sie war diejenige,die ihn verletzt hatte.
„Kann ich dich was fragen?“
Er machte ein unbestimmtes Geräusch, und ich deutete es als Ja und ließ mich wieder neben ihm nieder.
„Warum hast du Persephone entführt?“
Er rückte weit genug von mir ab, um mir in die Augen sehen zu können, und als ich den Schmerz in seinem Gesicht sah, bereute ich meine Frage.
„Tut mir leid“, schob ich schnell hinterher. „Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.“
„Nein, nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wütend. Ich versuche nur zu begreifen, wie es möglich ist, dass die wahre Geschichte mit der Zeit so verzerrt worden ist.“
Ich wartete darauf, dass er fortfuhr, und ignorierte die Feuchtigkeit, die vom Gras in meine Jeans zog. Er sah nachdenklich aus, als suchte er nach dem richtigen Weg, mir etwas zu erzählen, das er nicht oft loswurde.
„Ich habe sie nicht entführt“, erklärte er schließlich. „Es war eine arrangierte Ehe, die sie akzeptiert hat, weil es ihre Eltern waren, die sie in die Wege geleitet hatten.“
Zögernd versuchte ich mich an die Details der Mythologie zu erinnern, die ich gelernt hatte.
„Zeus und Demeter?“
„Sehr gut.“ Das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Mittlerweile musst du erkannt haben, dass meine Familie sehr seltsam ist. Wir nennen einander Brüder und Schwestern, doch in Wahrheit sind wir das nicht. Wir sind schlicht schon so lange zusammen, dass es keine Worte gibt für das Band, das zwischen uns existiert. Familie ist das Einzige, womit man es in etwa gleichsetzen könnte, doch es ist ein schwacher Vergleich.“
„Ella hat mir erzählt, dass ihr nicht wirklich Geschwister seid.“
„Hat sie das?“ Etwas daran schien ihn zu amüsieren. „Wir alle haben denselben Schöpfer, aber im eigentlichen Sinne sind wir nicht verwandt. Genau genommen ist mein Bruder – der natür-lich nicht wirklich mein Bruder ist – mit meiner Schwester verheiratet.Und ihr gemeinsamer Sohn ist mit einer weiteren unserer Schwestern verheiratet.“
Ich zog eine Grimasse, während ich versuchte, das in meinen Kopf zu bekommen.
„Nicht verwandt, richtig?“
„Nicht im Entferntesten.“ In einer stummen Entschuldigung drückte er die Lippen auf meine Stirn. Oder vielleicht versuchte er auch, meinen Zorn zu dämpfen. „Persephones Mutter ist meine Lieblingsschwester, und sie war es, die die Heirat vorgeschlagen hat. Persephone und ich verstanden uns gut, wenn wir einander sahen, und ihre Mutter bestand darauf, sie wollte uns beide glück-lich sehen. Ich war es zwar gewohnt, allein zu sein, aber der Gedanke, so viel Zeit mit Persephone zu verbringen, machte mir Freude. Als sie keine Einwände hatte, wurde alles festgemacht, und sie wurde meine Frau.“
Seine Frau. Genau das, was ich für ihn sein würde, wenn ich bestand. Sooft ich auch darüber nachdachte, was eine Zukunft mit Henry bringen mochte, hatte ich mich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, seine Frau zu werden – oder überhaupt irgendjemandes Frau. Vielleicht lag es daran, dass ich gerade mal achtzehn war, oder auch daran, dass meine Mutter nie geheiratet hatte, aber ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Möglicher-weise war das aber auch ein Vorteil. So würde ich ohne Erwartungen in die Ehe gehen. Und mein Wunsch, zu heiraten, war nicht größer als mein Bedürfnis, mit Henry zusammen zu sein – anders als bei Persephone, vermutete ich.
„Sie half mir dabei, zu regieren“, fuhr er fort, „genau wie du es hoffentlich bald tun wirst. Aber sie war jung, als wir geheiratet haben, und …“ Er wandte das Gesicht ab. „Mit der Zeit sah sie mich als ihren Kidnapper statt als Ehemann. Sie verabscheute mich über alle Maßen, und auch wenn sie mich zu Beginn gern hatte,
Weitere Kostenlose Bücher