Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
der letzten Wochen aus. Cristin nickte Minna zu und forderte sie auf, sich zu ihnen zu setzen.
Mechthild berichtete, was sich in der Zwischenzeit in Lübeck ereignet hatte. Nachdem sie geendet hatte, erzählte Cristin der Schwägerin von ihrer Reise nach Polen und ihren Erlebnissen in Krakow.
22
Lübeck
S eit der letzten Nacht tobte ein heftiger Sturm. Schon auf der Fahrt hatten Mechthild, Baldo und Cristin immer wieder entwurzelte Bäume und Häuser erblickt, deren Dächer abgedeckt worden waren. In Lübeck sah es nicht viel besser aus. Von der offenen See her wurde das Wasser die Trave hinaufgedrückt. Mittlerweile stand es bereits knöcheltief in den Straßen und Gassen.
Die Kapuzen ins Gesicht gezogen, machten sich die drei auf den Weg zum Marktplatz. Die meisten Händler hatten ihre Stände schon abgebaut und den Platz verlassen. Lediglich die Buden der Goldschmiede standen noch, denn sie befanden sich unter den Arkaden des Lübecker Rathauses, die Schutz vor Regen und Sturm boten. Unweit von ihnen drängten sich ein paar Bürger um die öffentliche Waage. Cristin atmete tief durch, als sie das mit Bronzeguss verzierte Portal des Rathauses erreichten. Fragen über Fragen bewegten sie, während sie an Baldos Seite durch das Foyer schritt.
Wer mochte nach all der Zeit dafür gesorgt haben, dass der Prozess gegen Lynhard Bremer wieder aufgenommen wurde? Selbst Mechthild wusste nichts über die Hintergründe für die neue Verhandlung. Sie betraten den Audienzsaal. Die Decke des großen Raumes war mit kostbar gearbeiteten Fenstern versehen, die den Blick zum Himmel freigaben, unter dem jedes Gericht stattzufinden hatte. Flüchtig dachte Cristin an ihren eigenen Prozess zurück, damals auf dem Marktplatz, nachdem sie tagelang in einer dreckigen Zelle in der Fronerei zugebracht hatte.
Während Cristin, Baldo und Mechthild zu den Stuhlreihen hinübergingen, die dem Publikum vorbehalten waren, prasselten erste dicke Regentropfen gegen die Scheiben. Die drei nahmen Platz, und Cristins Blick blieb an den beiden Türen am Ende des Saales hängen. Ihre Geschichte kannte sie, seit sie denken konnte. Wer nach der Verhandlung den Gerichtssaal als Unschuldiger verließ, durfte hocherhobenen Hauptes durch die höhere der Türen schreiten. Ein rechtmäßig Verurteilter jedoch musste den Sitten des Lübecker Rates entsprechend wie ein Tier auf allen vieren durch die niedrige Tür kriechen. Durch welche Tür würde Lynhard wohl den Gerichtssaal verlassen?
Baldo, Cristin und Mechthild, die zwischen den beiden saß, erhoben sich mit den anderen Anwesenden. Soeben hatte der Fiskal , der die Stadt bei Gerichtsverhandlungen vertrat, die Zuschauer und Schöffen aufgefordert aufzustehen, da Thaddäus Büttenwart den Saal betrat. Wie immer war der Richteherr mit einer langen Robe bekleidet, die sich über seinem dicken Leib spannte. Eine regennasse Filzkappe in der Hand, steuerte er auf den breiten Tisch zu, um sich schwerfällig in dem Lehnstuhl niederzulassen, der dem Richteherrn vorbehalten war. Der Vogt legte seine feuchte Kopfbedeckung auf dem Tisch ab und begrüßte den Stadtschreiber, der ein paar Schritte vom Richtertisch entfernt an einem schmalen Pult stand, mit einem Nicken. Über die dicken Gläser seiner Stegbrille hinweg musterte der schmalbrüstige Protokollant jeden Einzelnen im Raum.
Auch Cristin sah sich um. Der Saal war trotz des schlechten Wetters bis auf den letzten Platz gefüllt. Offenbar wollte sich niemand das Schauspiel entgehen lassen, wie Lynhard Bremer aus dem Kerker vor den Richtertisch geführt wurde. Die Spannung in der Luft war für Cristin beinahe mit den Händen greifbar. Sie fing die Blicke etlicher Männer und Frauen auf, die schon beim ersten Prozess gegen Lynhard dabei gewesen waren und sich noch gut an sie erinnerten.
»Büttel, führt den Angeklagten herein!«, hörte sie die Stimme des Fiskals .
Kunolf Mangel, kaum älter als sie selbst, war ihr in schlechter Erinnerung geblieben. Er hatte sie damals des Mordes an Lukas und obendrein der Hexerei beschuldigt, zusammen mit Vogt Büttenwart. Anders als der Richteherr, der Cristin vor ihrer Abreise nach Hamburg in Mechthilds Haus aufgesucht hatte, um sich für die ungerechte Behandlung zu entschuldigen, hatte Mangel dies nie für nötig gehalten. Erneut öffnete sich die Tür, und zwei Büttel betraten, Lynhard in ihrer Mitte, den Raum. Auch aus der Entfernung von etwa zehn Klaftern konnte Cristin den gehetzten Ausdruck auf seinem Antlitz
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