Das goldene Meer
langsam gingen sie den Flur hinunter zum Untersuchungszimmer.
Dr. Herbergh konnte seine Ungeduld kaum verbergen, als Xuong ins Zimmer kam und Ut vor sich herschob. Sie sah erschöpft aus, vom Weinen waren die Augen gerötet. Klein und demütig blieb sie neben der Tür stehen und senkte den Blick.
»Was ist?« rief Dr. Herbergh. »Ist Thuy schmerzfrei?«
»Ja.« Xuong antwortete für Ut. Sie verteilten die Rollen, wie sie es auf dem Weg zu den Ärzten besprochen hatten. »Er hat keine Schmerzen mehr.«
»Bravo!« Herbergh klatschte in die Hände. »Ut, eine wichtige Frage: Kannst du auch anderen Kranken die Schmerzen wegnehmen außer Thuy?«
Xuong übersetzte die Frage nicht, sie war unwichtig. Dafür sagte er ernst: »Thuy wird überhaupt keine Schmerzen mehr haben …«
»Eine Dauerheilung?!« rief Herbergh. »Bei diesem Krebs? Das ist unglaublich.«
Er warf einen Blick hinüber zu Anneliese und fand keine Begeisterung bei ihr. Sie hatte Xuong sofort verstanden und zerstörte Herberghs Enthusiasmus.
»Wie ist es geschehen?« fragte sie ruhig.
»Sein Herz setzte plötzlich aus.« Xuong legte den Arm um Uts Schulter. »Während sie ihn streichelte, lächelte er glücklich, atmete tief und erlöst auf … und war tot.«
»Was? Exitus?« Herbergh begriff jetzt erst, was geschehen war. »Thuy ist während der Behandlung gestorben?«
»Ja«, antwortete Anneliese rasch. »Das war zu erwarten. Fred, Sie haben sich über sein zähes Leben immer gewundert. Nun hat er's hinter sich. Xuong, sagen Sie Ut, daß wir ihr alle sehr dankbar sind, daß sie Thuy so lange die Schmerzen genommen hat. Gehen wir zu ihm.«
Nur kurz sah Dr. Herbergh den Toten an, setzte pflichtgemäß sein Stethoskop auf Thuys Brust, schob die Lider hinauf, fühlte den Puls und stellte offiziell den Tod fest.
»Herzversagen nach inoperablem Carcinoma ventriculi«, sagte er zu Julia, die mit einem Stenoblock hinter ihm stand. »Er wird morgen mit der ermordeten Frau bestattet.«
»Kann ich Ut zurück in die Kabine bringen?« fragte Xuong leise.
»Ja. Sie soll sich hinlegen und ausruhen.« Dr. Herbergh ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. »Hat sie überhaupt schon was gegessen?«
Xuong gab die Frage weiter. Ut schüttelte den Kopf.
»Wir sind gute Gastgeber, was?« Anneliese nahm die Decke vom Nebenbett und zog sie über Thuys Leiche. »Julia, geh zu Winter und sag ihm, er soll sofort etwas Kräftiges für Ut und die Kinder holen. Er soll es in meine Kabine bringen. Ich werde dort sein, sonst macht Ut ja nicht auf.«
Während Xuong die noch immer schwankende Ut wegführte, gingen Herbergh und Anneliese zurück ins Untersuchungszimmer.
Julia holte Hans-Peter Winter von einem Schachspiel mit Fritz Kroll weg, und Pitz verschloß hinter sich die Tür des Krankenraumes.
»Etwas Kräftiges?!« fragte Winter. »Was versteht man darunter?«
»Das fragt ein Koch?« Julia hob ihre Hand und zählte an fünf Fingern ab. »Bohnensuppe … Erbsensuppe … Linsensuppe … heiße Würstchen … man könnte auch schnell vier Schnitzel braten … Nun stell dich nicht so an, Hänschen.«
»Erbsensuppe. Die habe ich fertig in der Dose. Als allerletzten Notvorrat.« Winter sagte es mit tiefster Verachtung. Ein Koch wie er kochte nicht aus der Dose. Mit einem Büchsenöffner zu arbeiten, war fast eine Qual für ihn. »In zehn Minuten ist sie fertig.«
»Sie wollen tatsächlich im Zimmer III in einem Krankenbett schlafen, Anneliese?« fragte Dr. Herbergh. Sie saßen sich auf zwei unbequemen Plastikstühlen gegenüber, in einem nüchternen, weißen, steril wirkenden Raum, wie es das Untersuchungszimmer nun einmal war, umgeben von weiß lackierten Instrumenten- und Medizinschränken, Zellstoff-Abrollern, Wattespendern und Behältern mit Einwegspritzen und Gazekompressen. Es war durchaus nicht die richtige Umgebung, um eine Liebeserklärung zu machen. Dr. Herbergh sah das ein. Und ein Toter, den man gerade besichtigt hatte, war kein guter Hintergrund für die an sich banale, aber schicksalsschwere Frage: »Willst du mich heiraten?«
»Die Hauptsache ist ein Bett. Und unsere Hospitalbetten sind gut.«
»Aber das ist doch kein Dauerzustand.«
»Bis Manila sind es noch drei oder vier Wochen. Dann geht Ut ins Transitlager und ist außer Gefahr.«
»Wenn wir für sie und die Kinder die Garantie eines Landes zur Aufnahme bekommen. Sonst müssen Ut und die Kinder an Bord bleiben.«
»Aber irgendein Staat muß ihnen doch eine neue Heimat
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