Das goldene Meer
Alarm!«
Pitz gehorchte. Er rannte zum Sirenenhebel und zog ihn herunter. Siebenmal kurz, einmal lang. Das Horn dröhnte über das Schiff. Stellinger, der gerade mit zwei Drinks aus dem Deckhaus kam, begann zu laufen, trank sein Glas im Rennen leer, warf Dr. Starke, der aus seinem Liegestuhl hochgesprungen war, das Glas fast zu und hetzte dann zurück zur Tür.
Bei Alarm saß jeder Griff, das hatten sie genug geübt. Schwimmweste umbinden, das Schlauchboot klarmachen, die Lotsentreppe auswerfen, die Strickleitern herablassen, Taue ins Boot, Enterstangen, Transportgurte, um die Gehunfähigen an Bord zu hieven, das Hospital für Notbehandlungen herrichten.
Dr. Starke stürzte seinen Drink herunter, sagte: »Schade, Anneliese, wir waren so gut im Gespräch …« und rannte in das Deckhaus. Sie folgte ihm, hetzte zum Hospital und traf dort auf Julia, die bereits die Schutzbezüge von OP-Tisch, Anästhesiegerät und Instrumentenschrank weggerissen hatte. Wenn der OP nicht benutzt wurde, war hier alles abgedeckt – die aggressive Seeluft fraß sich in alles hinein. Die Klimaanlage summte. Sie war das Sorgenkind der ›Klinik‹ – sie hatte bisher neunmal versagt.
Auf der Brücke erschien Kapitän Larsson und stellte sich neben Dr. Herbergh auf die Nock. Drinnen, am Ruder, stand der zweite Steuermann Emil Pingels. Er hatte die Maschine auf langsame Fahrt gestellt.
»Wo?« fragte Larsson kurz und hob sein Fernglas.
»Backbord.« Herbergh zeigte in die Gegend. »Es tauchte zwischen den Wellen auf.«
»Ich sehe nichts.«
»Ganz deutlich habe ich das Boot im Glas gehabt.«
»Wer weiß, was Sie gesehen haben – im Glas.«
»Herr Kapitän, würde ich sonst Alarm geben?!« Dr. Herberghs Stimme wurde scharf. Was habe ich getan, dachte er dabei. Wie konnte es nur dazu kommen? Fred, bist du plötzlich übergeschnappt? Bist du total verrückt? Was ist aus dir in diesen drei kurzen Wochen geworden? Wozu hast du dich hinreißen lassen? Fred, das kannst du nicht verantworten! Diese Frau zerstört deinen Verstand.
»Natürlich kann ich mich irren«, sagte er mit der gleichen Schärfe. »Ich meine aber, ein Boot gesehen zu haben …«
»Sie meinen?!« Larsson ließ den Feldstecher sinken. Das ruhige Meer war gut überblickbar. Ein Boot war nicht zu übersehen. »Halten wir es ab sofort so, meine Herren: Alarm wird nur von mir gegeben, wenn auch ich sehe, was Sie sehen! Wer mir die Sirene anfaßt, dem schlage ich auf die Finger.«
»Das ist wohl kaum der richtige Ton!« sagte Herbergh erregt.
»Das ist meine Sprache, Herr Doktor. Ein Schiff ist kein Mädchenpensionat! Und auf See herrschen eigene Gesetze. Pingels, volle Fahrt voraus … nach Position 9.18 Nord/107.48 Ost.«
»Verstanden, Herr Kapitän.« Steuermann Pingels wiederholte die anzulaufende Position, signalisierte volle Fahrt und blickte Dr. Herbergh vorwurfsvoll an. Grußlos verließ Larsson die Brücke und ließ Herbergh einfach stehen.
Das darf nie wieder vorkommen, dachte Dr. Herbergh, über sich selbst zutiefst erschrocken. Nie mehr darf so etwas vorkommen! Aber diesen Starke könnte ich ohrfeigen. Verdammt ja – das könnte ich!
Ein Brief des Matrosen Herbert v. Starkenburg an seine Mutter Elise v. Starkenburg-Fellingen.
Geliebte, kleine Mutter, mein Alles auf dieser Welt! Den letzten Brief aus Singapur wirst Du noch nicht erhalten haben , die Post läßt sich Zeit, oder hast Du ihn doch schon? Dieser Brief heute wird in Manila eingesteckt werden, nach Plan in drei Wochen, und so kann ich hoffen, daß Du in sieben Wochen erfährst, wie es mir geht.
Die ›Liberty of Sea‹ ist ein gutes Schiff, ich freue mich, daß ich auf ihm angeheuert habe, und zum wiederholten Male wirst Du mich jetzt fragen, kleines Muttchen, wie ich dazu gekommen bin, Seemann zu wer den. Das ist eine lange Geschichte, und doch so kurz erzählt. Du wirst weinen, wenn Du das alles erfährst, aber ich will ehrlich zu Dir sein, wem soll ich es denn erzählen, wenn nicht Dir?
Es begann damit, daß René mich verlassen hat. René, den ich für den Treuesten der Treuen hielt. Einen Zettel hat er mir hinterlassen, einen lumpigen kleinen Zettel, auf dem Eßtisch. »Ich gehe«, stand darauf. »Mach's gut!« Weiter nichts. Keine Begründung, keine Erklärung, keine Anklagen, kein besonderes Wort. Kannst Du das verstehen, Muttchen? Ich nicht. Ich habe tage- und nächtelang gegrübelt, habe nach einer Schuld gesucht, aber keine Schuld in mir gefunden. Was ich fand, war nur
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