Das goldene Meer
und Unterbauch des Kranken, mit kreisenden Bewegungen, ohne sichtbaren Druck, hielt ab und zu inne, legte die Hände zusammen, als halte sie einen Gegenstand fest, stieß dann die Hände in die Luft und öffnete sie gleichzeitig. Sie schleuderte die Schmerzen weg, für sie waren sie greifbar, eine Masse. Dann massierte sie weiter, bis der Kranke sich streckte, schmerzfrei war, lächelte und mit diesem glücklichen Lächeln einschlief. Darauf tauchte sie beide Arme in einen Eimer Wasser, schüttelte die Nässe von sich, fiel zwischen ihre Kinder auf die Decke und schlief sofort ein. Sie machte den Eindruck einer total Erschöpften. Das war es.«
»Und das ist genug.« Dr. Starke setzte sich wieder, auch Pitz klemmte sich auf seinen Stuhl, aber er starrte Anneliese fassungslos an. »Nichts gegen Ihre Wahrnehmungen, schöne Kollegin – aber so etwas gibt es nicht.«
»Doch. Auf dem Schiff Liberty of Sea, Unterdeck, Schlafraum II. Ich will es ebensowenig glauben wie Sie, Wilhelm. Aber ich habe es gesehen. Wie oft Ut ihm die Schmerzen herausholt, weiß ich nicht. Wir wissen nur, daß er schmerzfrei ist, ohne daß wir ihm hohe Dosen Morphium injizieren müssen. Daran wäre er nämlich schon längst gestorben.«
»Eine Erlösung.«
»Wilhelm, Ihnen fehlt eine Menge, ja alles, um ein zweiter Hackethal zu werden.«
»Nennen Sie bitte in meiner Gegenwart nicht diesen Namen!« sagte Dr. Starke mit abweisender Steife.
»Ich weiß, Sie fürchten ihn wie viele unserer Kollegen.«
»Auch Ihr hochverehrter Hackethal würde diesen Hokuspokus nicht annehmen. Wirft die Schmerzen als Masse in die Luft! Streichelt sie weg. Holt sie aus dem Körper und sammelt sie in der hohlen Hand! Schöne Kollegin, das erzählen Sie mal Ihrem Hackethal.«
»Wollen wir uns mit einem Phänomen auseinandersetzen oder Hackethalsche Reaktionen voraussagen?« Dr. Herbergh winkte ab, als Dr. Starke noch etwas dazu sagen wollte. »Nein,Wilhelm. Keine Emotionen. Sehen wir das klar: Da ist eine junge Frau, die mit ihren Händen Schmerzen bekämpfen kann. Tumorschmerzen. Das ist erwiesen.«
»Nichts ist erwiesen.« Dr. Starke knirschte mit den Fingern, seine Erregung war nicht mehr zu bändigen. »Kann es nicht sein, daß Anneliese doch eingeschlafen ist und diese Szene im Traum gesehen hat? Ihr Unterbewußtsein war erfüllt von diesem Problem, also träumte sie davon. Da hat der alte Freud recht …«
»Sie sind von einem umwerfenden Charme, Wilhelm. Wollen Sie aus mir eine Traumwandlerin machen?«
»Können Sie völlig ausschließen, eingeschlafen zu sein?«
»Ja. Ich habe nach diesem – ich gebe es zu – aufwühlenden Ereignis sofort das Unterdeck verlassen. Ich mußte Luft haben, viel Luft, ich hatte das Gefühl: Lauf, lauf, sonst zerspringst du. Nicht ganz zwei Stunden war ich im Lagerraum, da schläft man doch nicht ein!«
»Mit den bloßen Händen …?« Auch Johann Pitz blickte ratlos um sich. »Das soll die mir mal vormachen.«
»Genau das ist es, Johann.« Dr. Herbergh beendete damit die Diskussion über Möglichkeiten oder Scharlatanerie nicht begreifbarer, überirdischer Kräfte oder biologischer Ausstrahlung. »Julia, bringen Sie diese Ut zu uns.«
»Sofort?«
»Ja, sofort.«
»Sie wird um diese Zeit wieder die Schmerzen einsammeln«, sagte Anneliese und sah, wie Dr. Starke sich an den Kopf faßte. »Jetzt, nach dem Frühstück …«
»So um zehn rum geht der Ca immer auf Deck spazieren«, Pitz kam es fast unheimlich vor, das zu sagen. »Schlapp, aber sonst munter …«
»Natürlich munter. Seine Schmerzen sind ja in die Luft geworfen.«
»Ich komme mir hier vor wie in einem Kabarett, in dem die Nummer abläuft: ›Hopplahopp, auch ohne Kopp.‹ Ein medizinischer Sketch, wobei man Medizin mit Y – Medzyn – schreiben sollte. Zyn wie zynisch.« Dr. Starke blickte Julia nach, die mit schwingendem Hinterteil das Arztzimmer verließ. »Ich will Ihnen sagen, was diese Ut praktiziert: nichts als eine Art Hypnose.«
»Bei Tumorschmerzen?« fragte Dr. Herbergh zweifelnd.
»Dank meines großzügigen Vaters, der damals noch in der Hoffnung schwelgte, sein Sohn würde seine Praxis einmal übernehmen, konnte ich mir als Student im 8. Semester eine Reise nach Indien leisten. Begeistert, aber als Mediziner doch kritisch, habe ich mir die Kunststücke der Fakire, der ›Heiligen Männer‹ angesehen. Das Nagelbrett war harmlos. Aber da stieß sich einer einen Haken durch die Zunge, durchbohrte mit dicken Nadeln seine Wangen, hieb
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