Das goldene Meer
weitergab. Sie sagte: »Ich kann mit meinen Händen auch Wunden heilen.« Das übersetzte Hung überhaupt nicht. Und auch nicht den Satz: »Wir hatten eine Kuh. Weil ich ihr Euter streichelte, gab sie doppelt so viel Milch wie andere Kühe.« Hung erlitt dadurch einen solchen Schock, daß er Uts Antworten nur noch kurz interpretierte. Sie ist ein Zauberweib, durchrann es ihn kalt. Die Kräfte des Himmels und der Erde sind in ihr. Man muß sie anbeten oder erschlagen. Es ist zu überlegen, was man tut.
»Ut kann darauf keine Antwort geben«, sagte Hung mit deutlicher Unsicherheit. Keiner nahm ihm das übel. Was man hier hörte, war greifbar gewordene Unglaublichkeit. »Sie hat nie darüber nachgedacht.«
Dr. Herbergh: »Ut, du brauchst keine Angst zu haben vor uns. Wir sind deine Freunde.«
Ut: »Du hast mir und den Kindern das Leben gerettet. Wir tun alles für dich, was du willst.«
Dr. Herbergh: »Kannst du uns zeigen, wie du die Schmerzen aus dem Magen holst?«
Ut: »Nein, Herr.«
Dr. Starke: »Aha! Warum nicht?!«
Ut: »Es gelingt nur, wenn ich allein bin, Herr.«
Dr. Herbergh: »Du hast es im Schlafsaal gemacht, fünfzig Personen um dich herum.«
Ut: »Sie haben alle geschlafen.«
Dr. Starke: »Wie oft am Tag holst du die Schmerzen aus dem Bauch?«
Ut: »Viermal, Herr.«
Dr. Starke: »Aber da schlafen doch die Leute nicht …«
Ut: »Ich gehe mit Thuy ganz hinten in einen leeren, dunklen Raum. Da kommt niemand hin, da sieht uns keiner.«
Dr. Starke fassungslos: »Das ist ja bestes Schmierentheater! Das fällt ja selbst einem Konsalik nicht ein!«
Hung: »Soll ich das übersetzen? Wer ist Konsalik?«
Dr. Starke winkte ab. »Das ist jetzt nicht wichtig. Ut …«
Ut: »Ja, Herr?«
Dr. Starke: »Wir geben dir einen Raum, wo du allein bist, wo kein anderer Mensch ist als du und der Kranke. Könntest du dann die Schmerzen herausnehmen?«
Ut: »Ich weiß es nicht, Herr.«
Dr. Herbergh: »Willst du es versuchen?«
Ut schaute Hung an. Der schwitzende Dolmetscher nickte mehrmals.
Ut: »Ja, Herr. Wann?«
Dr. Burgbach: »Nach dem Mittagessen.«
Dr. Herbergh: »Wann hast du zum erstenmal gemerkt, daß deine Hände anders sind als die Hände der anderen Menschen?«
Ut: »Sie sind nicht anders.« Sie hielt die Hände hoch, kleine, schmale Hände. Kinderhände. »Sie sind wie deine Hände, Herr, nur deine sind größer.«
Dr. Herbergh: »Ich kann mit meinen Händen keine Schmerzen aus dem Leib nehmen und sie wegwerfen.«
Ut: »Dann betest du nicht richtig, Herr.«
Dr. Starke, triefend vor Spott: »Das wird es sein, Fred. Sie zahlen zwar Ihre Kirchensteuer, aber Sie vergessen zu beten. Wie wär's, wenn Sie vor jeder Operation einen Psalm singen?! Herr, führe mir das Messer gut, halt ab von mir jeden Verdruß, ich schneide jetzt den Uterus … Einen Versuch ist das immerhin wert …«
Dr. Herbergh: »Ut, du hast meine Frage nicht beantwortet. Wann hast du gemerkt, daß du Schmerzen wegnehmen kannst?«
Ut: »Als Dang, mein Mann, gebissen wurde. Von einem Jaguar. Er lauerte Dang auf und sprang ihn an. Dang erstach ihn mit seinem Messer, aber vorher biß der Jaguar zu. Hier oben in die Schulter. Eine große Wunde, viel Blut, Dang hatte große Schmerzen. Aber als ich die Hand auf seine Schulter legte, um einen Brei aus Blättern und Wurzeln aus dem Dschungel auf die Wunde zu schmieren, da sagte er plötzlich: ›Ut, ich habe keine Schmerzen mehr.‹«
Dr. Starke: »Aber sie kamen wieder?«
Ut: »Ja. Aber immer, wenn ich seine Schulter streichelte, waren sie weg. Ich hatte die Schmerzen in meinen Händen. Wie Steine. Ich habe sie weggeworfen.«
Dr. Burgbach: »Hast du die Schmerzen gesehen? Diese Kieselsteine, wie du sie nennst?«
Ut: »Nein, Herrin. Nicht gesehen, nur gefühlt. Schwere Steine. Hinterher brannten die Hände wie Feuer, ich steckte sie in Wasser, dann wurde ich müde und mußte schlafen.«
Dr. Herbergh: »Danke, Ut. Du hast uns sehr geholfen. Komm nach dem Mittagessen mit Thuy hierher.«
Hung führte Ut schnell aus dem Arztzimmer. Er war froh, daß diese Befragung beendet war. Was er hatte übersetzen müssen, hatte ihn körperlich und seelisch strapaziert. Im Flur des Hospitals griff er deshalb Ut ins Haar und zog sie mit einem Ruck an sich heran. »Was hast du da erzählt?« zischte er und leckte den Schweiß, der ihm über den Mund lief, von den Lippen. »Du kannst Wunden heilen? Bei dir geben die Kühe mehr Milch? Du kannst Schmerzen aufsammeln wie Steine?«
»Ja …« Ut kroch
Weitere Kostenlose Bücher