Das goldene Meer
Fleischerhaken in seine Brustmuskeln und hängte daran Gewichte auf, und es blutete nicht und Reaktionen auf Schmerzen waren nicht zu erkennen.«
»Toll«, sagte Pitz leise. »Toll.«
»Was mich aber am meisten verblüffte, war der Trick mit dem Begräbnis. Da ließ sich einer der ›Heiligen Männer‹ lebendig begraben. In einem richtigen Grab. Er legte sich auf einer Matte hinein, schloß die Augen, kreuzte die Arme über der Brust und erstarrte. Zwei Helfer schütteten die Grube zu und stellten – der einzige Einbruch der Zivilisation in diese jahrhundertealte Magie – einen Wecker daneben. Nach zehn Minuten schellte er, die Gehilfen buddelten ihren Meister aus, der Fakir schlug die Augen auf und stieg munter wieder an die Erdoberfläche. Ich habe ihm damals vor Begeisterung hundert Rupien gegeben, was ihn veranlaßte, mich aufzufordern, auch ins Grab zu steigen und mich begraben zu lassen. Ich habe das entschieden abgelehnt.«
»Wie bedauerlich.« Anneliese konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Was wäre uns erspart geblieben!«
»Eins zu null für Sie, schöne Kollegin.« Dr. Starke grinste etwas schief. »Aber jeder Wettstreit hat mehrere Runden …«
Es klopfte an der Tür. Julia kam zurück. Sie schob eine junge, verschüchterte Frau vor sich her, der man nie glauben würde, daß sie schon drei Kinder hatte. Ihr erstes mußte sie selbst noch im Kindesalter bekommen haben. Mit gesenktem Kopf stand sie vor Dr. Herbergh. Ein leichtes Zittern des ganzen Körpers zeigte ihre Angst. Hinter Julia kam Le Quang Hung, der Dolmetscher, in den Raum; ohne ihn war keine Verständigung möglich. Dr. Starke betrachtete die schmächtige junge Frau mit sichtlichem Spott.
»Um auf Indien zurückzukommen«, sagte er lässig, »das Geheimnis dieser Fakirkunst ist eine Selbsthypnose bis zur fast völligen Funktionslosigkeit des Körpers. Der eigene Wille beherrscht alles. Man lebt in sich selbst, die äußere Hülle gibt es nicht mehr. Aber – und hier melde ich meine Vorbehalte als Mediziner an – auch ein Fakir wird sich vor Schmerzen winden, wenn er solch ein Ca hat wie unser Patient. Da liegt die Grenze.«
»Lassen wir uns überraschen.« Dr. Herbergh musterte die Frau, die Ut hieß und aus einem Fischerdorf am Mekong stammte. Ihr Mann war in Vietnam geblieben, das Geld hatte nicht gereicht, um auch ihn mitzunehmen. Zehn Tael sollte die Flucht kosten, zehn kleine schmale Goldplättchen, die in Vietnam zur heimlichen Währung geworden waren. Ein Tael hatte den Wert von etwa 200 Dollar. Woher sollte ein Fischer am Mekong 2.000 Dollar nehmen? Alles, was er besaß, hatte er für Ut und seine drei Kinder abgegeben. Er selbst wollte nachkommen, irgendwann, über die Grenze nach Thailand schleichen oder nach China. Als er von seiner Frau und seinen Kindern Abschied nahm, wußte er aber, daß es ein Abschied für immer war. Wie sollte er sie jemals wiederfinden? Wo? Wer wußte, wo sie hingebracht würden? Er konnte nur hoffen, daß sie ein besseres Leben finden würden, und das machte ihn froh.
»Hung, frag sie, ob sie Schmerzen wegstreicheln kann.«
»Was soll sie?« Hung glotzte Dr. Herbergh mit erschrockenem Blick an.
»Frag sie.«
Es wurde eine mühsame Unterhaltung. Hung übersetzte hin und her, verfiel immer mehr in einen Zustand bedrückender Ratlosigkeit und starrte Ut ein paarmal an, als wäre sie eine zum Leben erwachte Tote.
Und so verlief die Unterhaltung:
Dr. Herbergh: »Du kannst mit deinen Händen Schmerzen wegnehmen?«
Ut: »Ja, Herr.«
Dr. Herbergh: »Wie machst du das?«
Ut: »Ich ziehe sie aus dem Körper, Herr.«
Dr. Herbergh: »Spürst du das selbst?«
Ut: »Ich habe sie in der Hand. Wie Kieselsteine, Herr. Schwere Steine, Herr.«
Dr. Starke: »Du behauptest, Schmerzen seien eine Masse?«
Ut: »Ich verstehe Sie nicht, Herr. Was ist Masse?«
Dr. Burgbach: »Ut, erzähl uns, wie du das machst.«
Ut: »Ich lege meine Hände auf die Schmerzen, bete zu Gott und hole sie heraus, Herrin.«
Dr. Starke: »Zu welchem Gott betest du?«
Ut: »Zu dem einzigen. Der am Kreuz gestorben ist.«
Dr. Starke: »Du hast dich nie gewundert, daß du Schmerzen wegnehmen kannst?«
Ut: »Nein, Herr.«
Dr. Starke: »Aber andere können das doch nicht.«
Schweigen. Ut blickte hilfesuchend zu Dolmetscher Hung. Dem lief der Schweiß über die Augen, aber er dachte nicht daran, ihn abzuwischen. Was er übersetzen mußte, blieb in seinem Gehirn wie Blei zurück, denn Ut sagte mehr, als er an die Ärzte
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