Das Gottesmahl
junger Mann in rotem Polohemd und mit zerfranster,
schwarzer Baskenmütze auf dem kastanienbraunen Schopf, und
benutzte seinen Seesack als Kissen. »Ich meine, richtig knapp?«
»Bei mir nicht, nein. Aber in Philly hab ich mal ’n
Vollmatrosen mit ’m dreihundertfünfundsechzig Tage alten
Buch antanzen sehen.«
»Dem stand bestimmt der Schweiß auf der Stirn,
was?«
»Wie ’nem Heizer. Als er das Angebot winken sah, hat er
sich wahrhaftig in die Hose gepißt.«
»Er hat ’ne Heuer gekriegt?«
Neil nickte. »Zweieinhalb Minuten bevor sein Buch verfallen
wäre.«
»Gott der Herr hat seine Hand über ihn gehalten.«
Der sommersprossige Seemann zupfte unterm Polohemd ein dünnes
Goldkettchen hervor, sah das angehängte Kreuz an wie in Lewis
Carolls Alice im Wunderland das Weiße Kaninchen seine
Taschenuhr.
Neil erschrak. Nicht daß er das erste Mal mit einem
Jesus-Freak zu tun gehabt hätte. Im allgemeinen hatte er nichts
gegen sie. Auf See schufteten sie meistens wie Sklaven,
säuberten Klos und raspelten Rost ab, ohne zu klagen, aber ihre
Flausen raubten ihm die Ruhe. Ziemlich häufig kam das
Gespräch auf die angeblich fragwürdige Verfassung von Neils
unsterblicher Seele. An Bord der Stella Lykes hatte ein
Siebenten-Tags-Adventist Neil in vollem Ernst geraten, er sollte sich
umgehend zu Jesus bekennen, um sich ›den Ärger mit
Armageddon‹ zu ersparen.
»Was machst du da draußen?«
»Hier ist’s kühler«, antwortete der
sommersprossige Seemann und wickelte ein Stück Bazooka-Kaugummi
aus. Er besah sich den Comic, prustete und schob den kleinen,
schamroten Rechteckstreifen in den Mund. »Komm raus.«
»Neil Weisinger.«
»Leo Zook.«
Neil kramte seine Bugs-Bunny-Plastik-Imbißdose aus dem
Seesack und kraxelte zum Fenster hinaus. Er hatte Bugs Bunny immer
bewundert. Bugs lebte gern als Einzelgänger. Ohne Freunde. Ohne
Nachbarn. Schlau und einfallsreich, abgelehnt von seiner Umgebung.
Bugs Bunny hatte entschieden etwas Jüdisches an sich.
»Ich habe im Schuhkarton drei Spitzenreiter gesehen, und Sie
sind keiner von ihnen«, sagte Neil. Er hatte nicht den Eindruck,
daß es auf der Feuertreppe kühler als im Wartesaal war,
aber auf alle Fälle bot sich ein phantastischer Ausblick, man
genoß von der Ortsmitte bis zur Freiheitsstatue freie Sicht.
»Warum verdrückst du dich nicht lieber?«
»Der Herr hat mir offenbart, daß ich heute auf ein
Schiff komme.« Aus einer Reißverschlußtasche seines
Seesacks klaubte Zook eine zerfledderte Broschüre mit dem Titel Beglückende Begegnungen mit Jesus Christus, als deren
Verfasser ein Hyman Lewkowitz auf dem Umschlag stand.
»Vielleicht findest du daran auch Interesse«, fügte
Zook hinzu, indem er Neil das Traktat aufdrängte. »Die
Schrift stammt von einem Kantor, der das Heil erlangt hat.«
Neil klappte die Imbißdose auf, entnahm einen Apfel und
kaute. Er verkniff sich eine hämische Bemerkung. Für sich
besehen, war es eine tolle Sache, einen Gott zu haben. Ehe er
begriff, daß er auf ein Schiff gehörte, hatte Neil zwei
Jahre an der Jeschiwa-Universität zugebracht, jüdische
Geschichte studiert und mit dem Gedanken gespielt, Rabbi zu werden.
Aber Neils Gott war nicht der geduldige, zugängliche,
unmittelbar ansprechbare Gott, dem offensichtlich Zook sein Leben
weihte. Neil hatte einen durch die Seefahrt gefundenen Gott, das
strahlende Rätsel, das irgendwo zwischen dem tiefsten
mittelatlantischen Graben und jenseits des höchsten nautisch
relevanten Sterns existierte, den Gott der Vieruhrwache.
»Tu dir ’n Gefallen, lies es durch«, legte Zook ihm
nahe. »Man kann das Ewige Leben gar nicht eindringlich genug
empfehlen.«
Momentan wäre Neil nahezu jede andere Gesellschaft angenehmer
gewesen. Ein Lexikonvertreter. Ein Araber. Egal was sonst mit ihnen
sein mochte, seine arabischen Kollegen versuchten ihn nie zu
bekehren. Ärgstenfalls übersahen sie ihn;
günstigstenfalls wurden sie seine Freunde, besonders wenn er
ihnen half, trotz Kursänderungen des Schiffs beim Beten in
Richtung Mekka zu bleiben. Eigens für diesen Zweck hatte Neil
auf See immer einen Kompaß mit integrierter Magnetkorrektur
dabei.
Träge glitt sein Blick von der Broschüre auf die
Armbanduhr, die ihm sein Großvater zu Bar Mizwa geschenkt
hatte. Ein Pottwal zierte das Zifferblatt; Harpunen bildeten die
Zeiger, der lange Zeiger verwundete das Tier nur oberflächlich,
die kurze Harpune traf es ins Herz. Guter Gott, es war 11 Uhr 55.
Er stieg zurück in den Wartesaal, gerade
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