Das Gottesmahl
schlammverkrusteten Anker
vom Grund des Flusses empor. Anthony konnte auf dem Bugmonitor
beobachten, daß Klumpen dunklen Matschs von den Ankerflunken
rutschten wie Marmelade von einer Gabel und in den Hudson plumpsten.
Für einen Augenblick dachte er, er sähe Rafael
Azarias’ Leiche um die Flunken geschlungen, aber erkannte
gleich, es war lediglich ein engelförmiger Schlammbrocken.
»Abfieren!«
Anthony zog sich die belüftete Exxon- Schirmmütze
auf die Stirn herunter, öffnete steuerbords die Tür und
überquerte die offene Brückennock. Überall am Dock
tummelten sich Hafenarbeiter in schäbigen Turnschuhen und
löchrigen T-Shirts, wickelten Dacron-Leinen von Belegpollern,
befreiten den Tanker aus der Vertäuung. Über der sinkenden
Sonne kreisten Möwen, krächzten ihr endloses
Mißfallen in die Welt hinaus. Aus allen Richtungen sammelte
sich ein Halbdutzend Schlepper, ihre Tyfons heulten wie
verrückt, während ihre Crews den auf dem Wetterdeck der Valparaíso verteilten Vollmatrosen dicke, faserige Taue
zuschleuderten.
Anthony atmete eine gehörige Nasevoll Hafenluft ein –
die letzte Gelegenheit vorm Auslaufen, um dieses einmalige Gemisch
aus den Gerüchen nach Bilgenwasser, moderndem Strandgut,
Vogeldung und vergammelnden Algen auszukosten – und kehrte ins
Steuerhaus um.
»Voraus langsame Fahrt«, befahl Kolby. »Zwanzig
Umdrehungen.«
»Voraus langsame Fahrt.« Erster Offizier Marbles
Rafferty, ein alter Muschelrücken, schob die beiden Hebel nach
vorn. Er war ein trübseliger, hagerer, stets verkrampfter
Schwarzer Anfang vierzig. Bei seinem Anblick mußte Anthony an
einen langen Trompetenstek denken.
Behutsam und vorsichtig, als wären sie ein Schwarm sehender
Thunfische, die einen blinden Wal heimgeleiteten, machten sich die
Schlepper an die gleichermaßen kraftintensive und
ballettöse Aufgabe, die Valparaíso den Fluß
hinabzuziehen und in die New Yorker Oberbucht zu bugsieren.
»Steuerbord sechs«, sagte Kolby.
»Steuerbord sechs«, wiederholte das Besatzungsmitglied
am Steuerruder, Karl Jaworski, ein schmerbäuchiger Seemann, der
die Berufsbezeichnung Vollmatrose bis zum Exzeß
auszufüllen trachtete. Den Blick auf den Ruderlageanzeiger
gerichtet, versetzte Wozniak dem Steuerrad lethargisch einen
Ruck.
»Voraus halbe Fahrt«, ordnete Kolby an.
»Voraus halbe Fahrt«, bestätigte Rafferty.
Während der Erste Offizier die Hebel ein wenig weiter nach vorn
schob, schwamm das Schiff reibungslos über dreihundert Pendler
hinweg, die wegen des üblichen abendlichen Verkehrsstaus im
Holland-Tunnel standen.
»Stimmt es, daß Vater und seine Frau in Spanien
sind?« erkundigte Anthony sich beim Lotsen.
»Ja, in ’m Kaff namens Valladolid.«
»Nie gehört.«
»Christoph Kolumbus ist dort gestorben.«
Anthony verkniff sich ein Feixen. Ja natürlich. Wo sollte es
den Alten am Lebensabend schon hinziehen, wenn nicht an den Ort, wo
Christoph Kolumbus das Zeitliche gesegnet hatte?
»Kennst du zufällig seine Anschrift?«
Kolby holte einen Sanyo-Handcomputer aus der Tasche. Anthony
entsann sich des letzten Erntedankfest-Abendessens: den Anblick, wie
Kolby zerquetschte Kartoffel mit Geflügelsoße und
Feuerzeugbenzin aß. »Ich habe seine Faxnummer. Willst du
sie dir aufschreiben?«
Anthony nahm seine Ausgabe von Navigation in der Praxis vom
Marisat-Computer. »Her damit«, sagte er und zog einen Chevron- Kugelschreiber aus dem Bordjackett.
Warum bloß identifizierte sich sein Vater, überlegte
er, so halsstarrig mit Kolumbus? Hielt er sich für seine
Reinkarnation? Falls ja, konnte in Christoph van Horne wohl kaum der
enthusiastisch-visionäre Christoph Kolumbus reinkarniert worden
sein, der die Neue Welt angesteuert hatte; vielmehr mußte es
der senile, von Arthritis geplagte Kolumbus der späteren Reisen
sein, der Kolumbus, der an seiner Heckreling ständig einen
Galgen stehen gehabt hatte, um gewohnheitsmäßig Meuterer,
Deserteure, Unzufriedene sowie alle, die öffentlich
anzweifelten, daß er damals Indien erreicht hatte, umgehend
aufknüpfen zu können.
»Null eins eins drei vier zwo acht…«
Während Kolby die Faxnummer herunterleierte, schrieb Anthony
sie auf eine Darstellung des Kleinen Wagens, füllte das
Sternbild mit Ziffern.
»Schlepper los!« schnauzte der Lotse.
Während er das Welthandelszentrum näher rücken,
seine beiden Hochbauten wie Poller in die Abenddämmerung
aufragen sah, an denen ein unbeschreiblich gigantisches Schiff
anlegen sollte, packte Anthony eine
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