Das Gottesmahl
Mädchen, die noch mit keinem Manne verkehrt haben,
lasset für euch am Leben!« Im Doppel mit Runkleberg war Gott ohne Tränen zwei Wochen lang in der Freien
Poetenbühne auf der 42. Straße gelaufen, ein Programm, das
eine tobsüchtige, entstellende Besprechung im Newsday, einen Verriß in der Village Voice sowie in der Times einen vernichtenden Gastkommentar von Kardinal Terence
Cooke persönlich zum Resultat hatte.
Was auch ihre künstlerischen Schwächen sein mochten,
DeMilles Hommage an Gottes Allmacht erkannte zumindest das begrenzte
Fassungsvermögen der menschlichen Harnblase an. Der Film hatte
eine Pause.
Nach einer Stunde und vierzig Minuten, als Moses seine Audienz
beim brennenden Dornbusch hatte, kam allmählich Harndrang auf.
Cassie entschied sich zum Durchhalten. An den genauen Moment, an dem
die Notdurft entstand, konnte sie sich nicht entsinnen, aber sie
merkte, es war soweit. Außerdem fand sie eine Art perversen
Vergnügens an dem Film. Nach und nach verstärkte sich der
Druck. Langsam neigte Cassie dazu, die Vorstellung doch in medias
res zu verlassen -Moses machte sich soeben auf den Rückweg
nach Ägypten, um sein Volk zu befreien –, da schwoll die
Musik an, das Bild verflimmerte, der Vorhang schloß sich.
Zwei Frauen waren schneller als Cassie, vor der einzigen
Damentoilette warteten schon die mandeläugige Juanita Torres und
die asthmatische An-mei Jong. Sie stand dabei und durchdachte ihre
Theorie, daß das Patriarchat seinen Ursprung großenteils
in der Urinierflexibilität hatte, der beneidenswerten
männlichen Fähigkeit, überall zu pinkeln, da
hörte sie eine bekannte, dunkle Stimme.
»Möchten Sie auch was?« fragte Lianne, hielt ihr
eine halbleere Tüte Popcorn entgegen. »Ist vegetarisch,
ohne Butter.«
Cassie nahm sich eine Handvoll. »Haben Sie den Film auch
früher schon mal gesehen?«
»Wir sind in den sechziger Jahren mit der Sonntagsschule
reingegangen, an irgendeinem kirchlichen Festtag. ›Für
unsere Frauen ist Schönheit und Anmut ein Fluch‹, bah.
Hätte ich nicht Follingsbees Popcorn, würde ich
gehen.«
Ein Fortschritt, dachte Cassie. Liannes Abwehrhaltung wurde
schwächer. »Achten Sie darauf, was im zweiten Teil mit
Königin Nefretiri geschieht.«
»Mir gefällt nichts von allem, was in dem
Streifen mit den Frauen angestellt wird.«
»Ja, aber sehen Sie sich besonders gut an, was mit Nefretiri
passiert, was DeMille und das Patriarchat mit ihr machen. Immer wenn
der Pharao irgendwelche fiesen Taten verübt, den Israeliten mit
den Streitwagen nachjagt und so weiter, wird er von Nefretiri
angestiftet. Ewig die gleiche Geschichte, die Schuld wird den Frauen
zugeschoben, stimmt’s? Das Patriarchat schläft nie,
Lianne.«
»Ich darf Ihrem Freund kein Fax schicken.«
»Ist mir klar.«
»Dafür kann mir die FCC-Lizenz entzogen
werden.«
»Sicher.«
»Ich kann keins schicken.«
»Natürlich nicht.« Aus reiner Schmacht schaufelte
Cassie sich noch eine gehörige Portion von Follingsbees Popcorn
aus der Tüte. »Schauen Sie sich an, wie Nefretiri
dargestellt wird.«
16. Juli
Breite: 2°6’N. Länge: 10°4’W. Kurs: 272.
Geschwindigkeit: 9 Knoten im Südostpassat, 3 Knoten bei
Gegenwind, 6 Knoten im Durchschnitt. Langsam, viel zu langsam. Bei
dieser Geschwindigkeit erreichen wir den Nordpolarkreis erst am 25.
August, eine volle Woche später als geplant.
Es gibt noch eine schlechte Neuigkeit. Die Raubtiere und
Aasfresser haben Witterung aufgenommen, und mit einer
Durchschnittsgeschwindigkeit von 6 Knoten können wir ihnen nicht
entgehen. Im Verlauf jeder Wache töten wir ein Dutzend Haie und
fast ebenso viele liberische Seeschlangen und kamerunische Geier,
aber es kommen immer mehr. Wenn ich mich eines Tages hinsetze, um die
offizielle Reisebeschreibung dieser Fahrt zu verfassen, nenne ich
diese blutigen Tage »Die Schlacht im Guinea-Strom.«
»Warum haben sie vor ihrem Schöpfer nicht den gleichen
Respekt wie vergangene Woche die Tümmler und
Rundschwanz-Seekühe?« fragte ich Ockham.
»Respekt?«
»Er hat sie doch geschaffen, nicht wahr? Ohne ihn
gäbe es sie gar nicht.«
»Es ist sehr wohl denkbar«, sagte Ockham,
»daß sie ihm durch dieses gemeinsame Mahl ihre
Achtung erweisen.«
Das ganze Achterdeck knarrt, die Winden knirschen, die Ketten
rattern. Es klingt, als führen wir auf einem Gespensterschiff.
Gott verhüte, daß ein Kettenglied reißt. Einmal habe
ich erlebt, als ich Dritter Offizier auf der Arco Bangkok war,
wie eine Trosse
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