Das Grab des Salomon
Tarretti musste so rasch wie möglich von der Straße. Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre zu rennen, ohne sich dabei mit der Brechstange regelrecht aufzuschlitzen, hätte er nicht gewagt, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Pistole schlug ihm bei jedem Schritt gegen den Bauch. Dass er vergessen hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen, wurde ihm erst klar, als er bereits die halbe Ortschaft durchquert hatte. Für gewöhnlich trug er sie in der Vordertasche. Er war zu einem solchen Gewohnheitstier geworden, dass er selten über die Wände des Kastens hinausdachte, den er sich geschaffen hatte. Um das zu überstehen, was vor ihm lag, würde er cleverer sein müssen. Hoffentlich dachte Dinneck daran, eine Taschenlampe mitzubringen. Zu seinem Haus oder zur Kirche zurückzukehren, verhieße einen Zeitverlust, den sie sich vermutlich nicht leisten konnten.
Das Gefühl der Dringlichkeit, das ihn die vergangenen Tage heimgesucht hatte, durchdrang mittlerweile jede Faser seines Körpers und schwoll weiter an, je weiter er durch die Stadt lief. Gleichsam als Brennstoff diente das Gespräch – oder die Konfrontation, je nachdem, wie man es betrachtete – jenes Abends. Unter Umständen würden Dinneck und seine Freundin nicht da sein, wenn er eintraf. Vielleicht waren sie in der Kirche geblieben und hatten die Polizei angerufen. Elizabeth jedenfalls hatte Vincents Geschichte eindeutig davon überzeugt, dass er nicht ganz richtig tickte.
Allerdings spürte Vincent mit ganzem Herzen, dass er den jungen Priester erreicht hatte. Nathan Dinneck glaubte ihm oder hielt ihn zumindest nicht für vollkommen wahnsinnig.
Er konnte nur noch weitergehen und darauf vertrauen, dass Gott dem jungen Dinneck den rechten Weg weisen würde. Vincent blieb vorwiegend auf den dunkleren Straßen der Wohngebiete und durchquerte die dichter bevölkerten Winkel von Hillcrest mit forscher Geschwindigkeit, jedoch ohne dabei gehetzt zu wirken. Er folgte der Route zum zweiten Mal binnen weniger als einer Woche. Das Durchqueren des Walds am Ende des Hauptfriedhofs gestaltete sich immer schwierig, und er fragte sich, wie es den Teenagern während des Sommers so oft gelang, ohne sich dabei die Hälse zu brechen. Seine Jeans waren bis zu den Knien mit Schlamm verkrustet, weil er in eine weiche Stelle des Feuchtlands getreten war. Als er nun die Hepworth Avenue entlangging, schmatzten seine Schuhe bei jedem Schritt vor Wasser. Vincent griff nach hinten und rückte das Brecheisen unter der Jacke zurecht.
Die Hepworth Avenue kreuzte sich mit dem fernen Ende der Greenwood Street. Fast da. Ein Scheinwerferlicht hinter ihm. Panisch hielt er nach einer Stelle Ausschau, an der er die Straße verlassen konnte. Es gab keine, zumindest nicht, ohne verdächtig zu wirken. Mit den Händen in den Taschen und stetem Schritt ging er weiter. Die Pistole schien plötzlich tonnenschwer. Er hoffte inständig, das herannahende Fahrzeug würde sich nicht als Streifenwagen herausstellen. Ein Typ mit Pferdeschwanz, der mit einer Pistole und einem Brecheisen spätnachts durch eine Kleinstadt schlich, wäre ein gefundenes Fressen für die Polizei.
Es war eine Großraumlimousine. Vincent zwang sich, nicht in die Fenster des Wagens zu schauen. Der Van fuhr weiter bis zur nächsten Kurve, bevor er in eine Auffahrt bog. Die Scheinwerfer erloschen. Vincent verlangsamte die Schritte, um nicht zu schnell zu dem Auto aufzuschließen. Als er letztlich daran vorbeiging, erklomm der Fahrer, ein Teenager, der sich offenbar den Wagen seiner Eltern geliehen hatte, gerade die Stufen zur Eingangstür des Hauses. Flüchtig schaute er zu Vincent herüber. Vincent winkte ihm geistesabwesend, und der Bursche erwiderte die Geste, vermutete offenbar, dass es sich um einen Nachbarn handelte, der einen späten Spaziergang unternahm. Dann verschwand der Junge im Haus.
Erleichtert seufzend stieß Vincent den Atem aus. Er war nervös, aufgekratzt. Er wünschte, er könnte in sein Haus zurückkehren und in sein Notizbuch schreiben. Die Ereignisse in seinem Leben aufzuzeichnen, verlieh ihnen Kontrolle über sie. Oder zumindest die Illusion von Kontrolle.
Er erreichte die Kreuzung mit der Greenwood Street, bei der es sich um eine lange, größtenteils gewundene Straße handelte, an deren Ende der alte Friedhof lag. Als Vincent in sie bog, bereitete ihm plötzlich etwas Kopfzerbrechen: Wenn er Dinneck und das Mädchen in die Gruft hinabführte, was würden sie sehen? Das Gewölbe enthielt mehr als nur ein
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