Das Grab des Salomon
Vincent notierte schon so lange jedes Ereignis im Ort, das er als außergewöhnlich empfand. Manchmal behandelten seine Notizen nachgerade banale Dinge wie die Neuasphaltierung des Parkplatzes vor dem Stop ‚N Shop . Er konnte sich nicht erinnern, dass Ralph Hayden sich auch nur einmal ungewöhnlich verhalten hätte. Der Mann hatte nie auffälliger als andere in die Richtung der Grabstelle geblickt, ebenso wenig hatte er je Visionen oder Albträume erwähnt.
Jäh schaute Vincent auf wie jemand, der ein plötzliches Geräusch gehört hatte. Nur war da kein auffälliges Geräusch gewesen, außer dem ständigen Zirpen der Grillen, dem Quaken der Frösche und dem fernen Dröhnen eines Jets im Anflug auf den Flughafen Logan.
Nathan Dinneck . Ihm war das Grabmal aufgefallen, er hatte Träume – wovon sich auch handeln mochten. So vieles an dem neuen Geistlichen schien seltsam. Aber Dinneck war in die Stadt gekommen, nicht abgereist. Vielleicht war die Zeit für eine Veränderung doch nicht so nah, wie Vincent fürchtete. Womöglich stellte das allgegenwärtige Gefühl von Gefahr nur ein Vorzeichen für die letzte Phase dar. Vielleicht würde Dinneck derjenige sein, der den Schatz verlagerte, aber erst in weiteren zwanzig Jahren.
Der neue Herrenklub wollte Blumen stiften. Der weißhaarige Buchhaltertyp namens Quinn hatte sich nach Hayden erkundigt. Der alte Mann war verschwunden.
Vincent ließ die geballte Faust auf den Tisch niedersausen und versprengte dadurch die vergessenen Begräbnisformulare, die er bei Dinnecks Anruf aus einem kleinen Ordner hervorgeholt hatte. Er wünschte, er könnte dem jungen Priester dessen Albträume aus dem Kopf ziehen und sie in Augenschein nehmen. Glaube war wichtig, aber nach so vielen Jahren, die Vincent damit verbracht hatte, das zu beschützen, was sich in der Grabstelle verbarg, fühlte sich jeder neue Schritt gefährlich an.
Er stand auf und schaltete auf dem Weg ins Bett die Lichter aus. Johnson schaute vom Teppich auf und wedelte besorgt mit dem Schwanz. Vincent würde für Pastor Haydens Sicherheit beten und abwarten. Etwas anderes konnte er nicht tun.
Kapitel Dreißig
So sehr Nathan es versuchte, er konnte nicht schlafen. Er setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und ließ sich aus dem Bett gleiten. Dann kniete er sich hin und verwendete die Matratze als behelfsmäßige Gebetsbank.
Gott , dachte er, bitte hilf mir. Verliere ich den Verstand? Eigentlich sollte dies eine Zeit großer Freude sein, der Gipfel all dessen, was du mir gegeben hast . Er beugte sich weiter vor, bis seine Stirn die zerknüllte Decke berührte. Nichts fühlt sich richtig an; mein Leben hat sich in einen dieser Albträume verwandelt, in denen alles falsch läuft. Bitte, hilf mir .
Ein paar Minuten verharrte er in dieser Haltung. Kein Donnergrollen, keine plötzliche Eingebung zur Beantwortung seiner Fragen. Nathan war müde, so müde wie an dem Tag, als er im Pfarrsaal zusammengebrochen war. Er raffte sich auf, setzte sich auf den Rand der Matratze und streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus, um sie abzuschalten, zögerte jedoch.
Über das Haus verteilt gab es mehrere Bibeln. Seine neue, internationale Ausgabe hatte er vergangene Nacht – die erste Nacht, die er in diesem Zimmer geschlafen hatte – auf das Nachtkästchen gelegt. Nathan hatte immer gern eine Bibel griffbereit. Hervorragender Lesestoff vor dem Einschlafen.
Allerdings wusste er im Augenblick nicht, wonach er suchen sollte, welche Stelle ihm helfen könnte, diese irrsinnige Situation in einem neuen Licht zu sehen. Er schob das Kissen gegen das Kopfende des Bettes, lehnte sich zurück, blätterte das Buch durch und starrte unkonzentriert auf die Seiten. Kurz erregte das Wort »Salomo« seine Aufmerksamkeit, dann verschwand es im Gewirr der Verse. Nathan steckte den Daumen in das Buch und blätterte ohne Eile erst einige Seiten zurück, dann wieder vorwärts.
Salomos Bundesbruch, lautete die Überschrift.
Morgen , dachte Nathan.
Lies , flüsterte eine instinktähnliche Stimme in seinem Herzen. Nur dieses Kapitel. Bis zum Ende, und dann schlaf.
Nathan folgte dem inneren Rat und las das Kapitel. Es war die Geschichte darüber, wie Salomo in Ungnade fiel, als er beschloss, den falschen Götzen seiner zahlreichen, in fremden Ländern unterhaltenen Gemahlinnen zu huldigen. In Jerusalem baute Salomo »eine Kulthöhe für Kemosch, den Götzen der Moabiter, und für Milkom, den Götzen der Ammoniter«, ferner für
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