Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
Sayonara.
Charlie wusste, dass Ryan mich sitzengelassen hatte. Und Pete. Wie schon bei den vorangegangenen Nicht-Rendezvous drängte er mich nicht. Mir gefiel das.
Warum dann die Distanziertheit?
Ich wollte keine Wiederholung der Katastrophe vom letzten Oktober. Oder des peinlichen Rücksitzgefummels in der Highschool.
Aber war das wirklich der Grund? Ich war frei, Charlie ebenfalls. Wir waren keine Kinder mehr, die in Daddys Buick mit ihren Hormonen kämpfen. Ich dachte an die Aussage, die Vecamamma so irritiert hatte. Frauen haben Bedürfnisse.
Haargenau, Cukura Kundze.
Warum dann das puritanische Getue? War es Ryan?
Wer wusste das schon?
Eins wusste ich allerdings. Wenn ich Ryan auf Armeslänge hielt, dann hielt ich Charlie irgendwo am Rande der Milchstraße.
Montagmorgen. 26. Januar. Zurück in Montreal, und dank Birdie spät dran.
Der kleine Feger, der offensichtlich noch immer sauer war, weil ich ihn am Abend zuvor mit Vomex, Katzenkäfig und Flugzeug traktiert hatte, schoss durch die offene Tür, als ich mich umdrehte, um die Alarmanlage zu stellen. Zehn Minuten musste ich die Eingangshalle durchsuchen und Mobiliar verrücken, bis ich ihn gefunden hatte.
Mein Nachbar Sparky Monteil kam dazu, als ich den Flüchtling eben hinter dem Sofa in der Halle hervorzog. Als er die Katze sah, fing er sofort an, über Dreck und Krankheiten zu schimpfen und dass die Viecher kleinen Kindern die Luft zum Atmen nähmen.
Da ich wusste, dass ich den Anfang der Morgenbesprechung verpassen würde, und mich außerdem über Birdie ärgerte, schaffte ich es nicht, die Situation mit dem angemessenen Feingefühl zu bewältigen. Es wurden einige Nettigkeiten ausgetauscht. Sparky schwor, er werde mich aus dem Haus werfen lassen, und drohte, dass mein Haustier eines Tages einfach verschwinden könnte.
Nur gut, dass Sparky Englisch spricht. Oder auch nicht. In meiner Muttersprache kann ich fluchen wie ein Matrose.
Im Wilfrid-Derome ging ich direkt in mein Büro, um mich einiger wärmender Schichten zu entledigen und mir Stift und Block für die Besprechung zu holen.
Lisa ist eine Autopsietechnikerin mit sonnenblonden Haaren und einer biblischen Oberweite. Wenn Polizisten bei Autopsien anwesend sein müssen, hoffen sie immer, dass Lisa diejenige ist, die ihre Leichen bearbeitet.
Als ich meine Tür aufschloss, sah ich Lisa auf der anderen Seite des Gangs im Histologielabor im Gespräch mit meinem Assistenten Joe. Keiner der beiden lächelte.
Als sie mich durch das Fenster entdeckten, verstummten sie. Ich winkte.
Joe machte sich wieder daran, Organproben zu registrieren. Lisa hob halbherzig die Hand.
Sexuelle Spannung?
Was auch immer.
Ich warf meinen Parka auf den Schreibtisch und lief in den Konferenzsaal.
Dieselben grünen Wände. Derselbe Tisch. Dieselbe Liste des Todes, auf Grund von Boshaftigkeit, Melancholie oder Schicksal.
Morin verlas sie.
Ein Dealer, der von zwei Konkurrenten festgehalten und verprügelt wurde, kippte auf den Bürgersteig und stand nicht mehr auf. Wahrscheinlich Mord durch Verdrehungen und Überstreckung des Kopfs.
Ein Mann band ein Seil an einen Baum, setzte sich in seinen Pick-up, legte sich die Schlinge um den Hals und gab Gas. Wahrscheinlich Selbstmord durch Selbstenthauptung.
Ein Meth-Süchtiger schlief nackt auf seinem Balkon und erfror. Wahrscheinlich ein Unfall durch extreme Dummheit.
Während Morin redete, strichelte Briel etwas mit schnellen, kurzen Bewegungen auf ihre Fallliste, und die Furchen auf ihrer Stirn erreichten eine neue persönliche Bestmarke.
Santangelo trank aus einer Flasche Quellwasser und kratzte zwischen den Schlucken mit dem Daumen das Etikett ab.
Ayers saß halb vom Tisch abgewandt, den Blick auf einen Punkt zwischen dem Fenster und der Tafel gerichtet.
Morin übernahm den Mord, Santangelo den Selbstmord.
Ayers bekam den Junkie. Briel ging leer aus.
Während Unterlagen verteilt wurden, betrachtete ich meine Kollegen.
Steife Gesichter. Angespannte Stimmen. Kein Blickkontakt. Zuerst Lisa und Joe. Jetzt das.
Was zum Teufel war da los?
Natürlich, die Feierzeit war vorüber, und Februar und März lagen lang und dunkel vor uns. Aber ich spürte mehr als eine Nachurlaubsdepression.
Angst um LaManche? Budgetkürzungen? Vielleicht.
War ich das Problem? Ich war wütend wegen der zweiten Oka-Bergung. Spürte meine Umgebung vielleicht feindselige Schwingungen?
Morin drehte sich in meine Richtung.
»Ich nehme an, Sie haben gehört, dass in Oka zusätzliche
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