Das Grauen im Museum
schienen die halb steinernen, halb ledernen Fasern allmählich zu erschlaffen, wodurch wahrnehmbare Änderungen in den Stellungen der Gliedmaßen und in bestimmten Details des angstverzerrten Gesichtsausdrucks hervorgerufen wurden. Nachdem ein halbes Jahrhundert lang keinerlei Verfallserscheinungen aufgetreten waren, war dies eine höchst betrübliche Entwicklung, und ich ließ den Präparator des Museums, Dr. Moore, das grausige Objekt mehrmals gründlich untersuchen. Er stellte eine allgemeine Erschlaffung und Erweichung fest und sprühte die Mumie zweioder dreimal mit adstringierenden Flüssigkeiten ein, wagte aber keine drastischere Behandlung, um den Verfallsprozeß nicht etwa noch zu beschleunigen.
Erstaunlich war, wie sich dies alles auf das Verhalten der Öffentlichkeit auswirkte. Bislang hatte jede neue Sensationsmeldung in der Presse neue Scharen gaffender und flüsternder Besucher ins Museum gebracht, doch jetzt schien die Öffentlichkeit trotz der nicht enden wollenden Zeitungsartikel über die Veränderung der Mumie diese so sehr zu fürchten, daß auch krankhafte Neugier kaum noch einen Besucher in das Museum lockte. Dieser Rückgang der Besucherzahlen ließ die absonderlichen Ausländer, die immer noch scharenweise ins Museum kamen, um so auffälliger erscheinen.
Am 18. November erlitt ein Peruaner indianischer Abstammung einen merkwürdigen hysterischen oder epileptischen Anfall vor der Mumie und schrie hinterher in seinem Krankenhausbett: »Es hat versucht, die Augen zu öffnen! T’yog hat versucht, die Augen zu öffnen und mich anzusehen!« Ich war zu diesem Zeitpunkt schon fast entschlossen, das Exponat nicht länger im Mumiensaal zu lassen, ließ mich aber bei einer Konferenz mit unseren sehr konservativen Direktoren überstimmen. Es war jedoch nicht zu übersehen, daß das Museum allmählich einen sehr beklagenswerten Ruf in dieser gutbürgerlichen Wohngegend bekam. Nach dem letzten Vorfall gab ich Anweisung, daß jeder Besucher sich ab sofort nur noch höchstens ein paar Minuten vor der monströsen pazifischen Reliquie aufhalten dürfe.
Am 2.4. November bemerkte einer der Wärter nach dem Schließen des Museums um fünf Uhr, daß die Mumie ihre Augen ganz leicht geöffnet hatte. Die Erscheinung war kaum wahrnehmbar nur ein haarfeiner Streifen Hornhaut war bei beiden Augen unter den Lidern sichtbar —, aber es handelte sich trotzdem um ein höchst interessantes Phänomen. Dr. Moore, der eilends herbeigerufen wurde, wollte die Augäpfel mit einer Lupe untersuchen, stieß dabei jedoch an die Mumie an, und die ledrigen Lider schlössen sich wieder gänzlich. Vorsichtige Versuche, sie wieder zu öffnen, schlugen fehl, und Dr. Moore wollte keine energischeren Maßnahmen ergreifen. Als er mir dies alles telefonisch mitteilte, empfand ich eine wachsende Angst, die mir angesichts des scheinbar simplen Vorganges nicht recht plausibel erschien. Einen Moment lang teilte ich die landläufige Ansicht, daß irgendein böser, unfaßbarer Fluch aus unergründlichen Tiefen von Zeit und Raum düster drohend über dem Museum hing.
Zwei Tage später versuchte ein mürrischer Philippino, sich abends im Museum einschließen zu lassen. Nachdem er festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht worden war, weigerte er sich sogar, seine Personalien anzugeben, und wurde als verdächtige Person in Haft genommen. Gleichzeitig hatten wir jedoch den Eindruck, daß die strenge Bewachung der Mumie die seltsamen Ausländer davor zurückscheuen ließ, das Museum in Scharen heimzusuchen. Jedenfalls ging die Zahl der exotischen Besucher nach dem Weitergehen-Erlaß deutlich zurück.
Am Donnerstag, dem ersten Dezember, geschah dann jedoch kurz nach Mitternacht etwas Furchtbares. Gegen ein Uhr ertönten grauenhafte Todesschreie aus dem Museum, und eine ganze Reihe entsetzter Anrufe von Nachbarn führten dazu, daß innerhalb weniger Minuten ein Polizeitrupp und mehrere Museumsangestellte, darunter auch ich selbst, vor dem Museum eintrafen. Einige der Polizisten umstellten das Gebäude, während andere zusammen mit den Angestellten vorsichtig in das Gebäude eindrangen. Im Hauptkorridor fanden wir den Nachtwächter erdrosselt am Boden liegen er hatte noch die Schlinge aus ostindischem Hanfseil um den Hals und wir erkannten, daß sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen irgendein
verbrecherischer Eindringling (oder mehrere) Zugang zum Museum verschafft hatte. Jetzt herrschte jedoch im ganzen Gebäude Grabesstille, und wir scheuten uns
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