Das Grauen lauert in der Tiefe
ließ Max sich auf die schmale Pritsche sinken und überlegte trotz der Ausweglosigkeit, in der er sich befand, was für Möglichkeiten ihm noch blieben. Mr Kolschok würde sicherlich dasselbe von ihm wissen wollen, was ihn schon die Mutanten im Jammerviertel gefragt hatten, und genau darauf wusste Max keine Antwort. Er konnte sich natürlich eine Lügengeschichte ausdenken, aber das würde diesen widerlichen, rattengesichtigen Unhold nur für kurze Zeit davon abhalten, ihm wehzutun. Wenn überhaupt. Kolschok hatte die arme kleine Katze gern getreten, das hatte Max in seinen Augen gesehen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und grelles Licht fiel in die Zelle.
»Aufstehen!«, befahl eine barsche Stimme.
»Nicht aufgeben«, sprach Max sich selbst Mut zu. »Du darfst nicht aufgeben.«
Er verbannte die Angst, so gut es ging, aus seinem Kopf und versuchte stattdessen, sich auf den Weg durch den Justizpalast zu konzentrieren, den der Wärter ihn entlangführte. Doch das war alles andere als leicht, denn es gab kaum Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren konnte. Alle Flure sahen gleich aus und vor allem waren sie endlos lang. Auf jeden Fall schien Mr Kolschoks Behörde nicht gerade wenig Geld zur Verfügung zu haben, denn außerhalb des Gefängnistrakts waren die Wände mit teuren Tropenhölzern getäfelt und die Flurböden mit Marmorplatten gekachelt.
Zwei Beamte gingen an ihnen vorbei.
»Gehört der zu den Unruhestiftern?«, wollte einer der beiden wissen und fügte gleich darauf hinzu: »Ich hoffe, dass er besonders schwer bestraft wird.«
Der Wärter öffnete eine Tür und führte Max in einen großen Raum, in dessen Mitte einzig und allein ein Zahnarztstuhl stand. Maxwells Knie wurden schlagartig weich wie Wackelpudding, und er wäre zu Boden gestürzt, wenn der Wärter ihn nicht so fest am Kragen gepackt hätte.
Max bemerkte, dass der Stuhl Lederriemen hatte, mit denen man die Patienten festschnallen konnte. Und daneben entdeckte er ein Gestell aus Eisen, in dem Bohrer, Zangen und Feilen aufbewahrt wurden. An einigen der Werkzeuge klebte Blut.
»Nein!«, schrie Max. »Ich will nicht zum Zahnarzt!«
»Wer will das schon?«, erwiderte der Wärter und ließ nun doch ein wenig Mitgefühl erkennen. Trotzdem beförderte er den sich sträubenden und um sich schlagenden Jungen mit einigen groben Handgriffen auf den Stuhl und band ihn mit den Riemen fest. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.
Max wehrte sich noch immer wie verrückt, musste aber bald einsehen, dass es unmöglich war, sich aus den Lederfesseln zu befreien. Außerdem fiel ihm ein, dass er sich vorgenommen hatte, auch in ausweglosen Situationen Haltung zu bewahren, um wenigstens in dieser Hinsicht mit seiner Mutter mithalten zu können. Er atmete tief ein und aus und stellte sich vor, ganz leicht zu sein, so schwerelos wie eine Feder. Oder eine Schneeflocke. Oder ein Blatt Papier …
Mit einem Mal sprang wieder das Räderwerk in seinem Kopf an. Ein Blatt Papier … ein Blatt Papier … eine Seite aus einem Buch … Natürlich! Das war es, wohinter sowohl Professor Hardenberg als auch Mr Kolschok her waren. Max hatte des Rätsels Lösung in der Wohnung der Sinclairs im wahrsten Sinne des Wortes auf der Zunge gehabt.
Die magische Seite der Altstain-Energie.
Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Er spürte das Papier auf der nackten Haut seines Bauches. Die Buchseite, die er in Hardenbergs Bibliothek unter dem Schreibtisch gefunden hatte, steckte noch immer unter seinem Unterhemd.
Leider konnte er sich über diesen Geistesblitz nicht richtig freuen, denn im selben Augenblick betraten Mr Kolschok und ein Mutant den Behandlungsraum, der auf einmal nicht mehr riesig, sondern ziemlich klein und beengt wirkte.
»Welcher deiner kleinen Beißerchen bereitet dir denn am meisten Probleme?«, fragte Kolschok und zeigte sein boshaftes Rattenlächeln. »Höchste Zeit, dass wir dir den Zahn ziehen.«
Er setzte sich auf einen Hocker, der zwischen dem Gestell mit den Werkzeugen und dem Zahnarztstuhl stand. Dann griff er zu einem Instrument, das aussah wie ein kleiner Schürhaken mit einem besonders spitzen Ende.
Der Mutant trat hinter Maxwell und hielt ihm die Nase zu, sodass Max den Mund öffnen musste, um Luft zu bekommen. Sofort begann Mr Kolschok, mit dem Schürhaken auf Maxwells Zähnen herumzuklopfen, und es kostete den Jungen seine ganze Willenskraft, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
»Spielen Sie gern Karten?«,
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