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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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beim ersten Mal viel abverlangt hatte, mit Schwung in Angriff. Er fühlte sich stark, und der Stau, der immer wieder über ihm entstand, wenn ein erschöpfter Kletterer am Fixseil Rast machte, brachte ihn nach einiger Zeit aus der Fassung. So einen Aufstieg, bei dem überforderte Anfänger für mehr Schwierigkeiten sorgten als Wind und Wetter und der Berg selbst, hatte er noch nicht erlebt.
    »Carla, alles gut bei dir?« rief er nach unten.
    »Alles bestens!«
    Er blickte am Fixseil entlang hinab in die Tiefe. Direkt unter ihm trieb Lobsang die Zacken seiner Steigeisen in die Wand, danach kam Carla, und hinter ihr leuchtete eine gelbe Jacke. Ihr Besitzer atmete bereits künstlichen Sauerstoff, er sah aus wie ein Kampfpilot.
    »Ist das nicht ein wenig früh?« fragte Jonas nach unten.
    Lobsang drehte sich um und lachte.
    »Es gibt Menschen, die drehen die Flaschen schon im Basislager auf.«
    »Davon habe ich einige gesehen, aber ich dachte, es handle sich um medizinische Notfälle!«
    »Nein, zu denen werden sie erst.«
    Es ging weiter. Zwanzig Meter Klettern, fünf Minuten Pause. Zum Glück schien die Sonne in die Wand, sonst hätte sich Jonas die Finger abgefroren. Seine dicken Handschuhe steckten im Rucksack, weil er mit den dünneren mehr Gefühl für den Eispickel und den Jumar hatte.
    Zwanzig Meter Klettern, Pause. Dreißig Meter, Pause. Fünf Meter, Pause. Zehn Meter, Pause.
    »Lang halte ich das nicht mehr aus«, rief Jonas nach unten, »das ist doch ein Witz!«
    »Gewöhn dich besser dran«, gab Lobsang zurück.
    »Ich verstehe nicht, was in solchen Leuten vorgeht. Wenn ich merke, dass ich zu langsam bin, hänge ich mich an eine Eisschraube und lasse den Pulk vorbei.«
    »Meinst du wirklich, dass diese Leute alle wissen, wie eine Eisschraube funktioniert?«
    »So schlimm?«
    »Ich habe einige von denen vor uns gesehen. Ein paar gehören zu den Afrikanern, ein paar sind aus Trinidad, und zwei Beinamputierte und zwei Blinde sind auch dabei. Sei froh, wenn dir keiner von denen in der Wand entgegenkommt und auf den Rücken kracht. Besser, sie rasten, wenn sie müssen.«
    »Ich verstehe das nicht. Ich bin ja schon kein echter Bergsteiger und habe hier eigentlich nichts verloren. Aber was wollen die hier?«
    »Ich bin froh, dass sie da sind, denn von ihrem Geld können wir unsere Kinder zur Schule schicken.«
    »Irgendwie traurig.«
    »Jonas, es geht schon wieder weiter. Oder brauchst du eine längere Pause?«
     
    Nach einigen Stunden wurde auch Jonas langsamer. Die Höhe machte ihm zu schaffen, die Rippe schmerzte, und das Klettern in dieser Wand wäre selbst dreitausend Meter niedriger anstrengend gewesen. Was ihm an Technik fehlte, versuchte er durch Körperkraft auszugleichen, und nun merkte er auf jedem Meter, wie zerschlagen er war.
    »Alles in Ordnung, Carla?« rief er nach unten.
    Keine Antwort. Er rief noch einmal. Er schaute hinab und sah Carla in der Wand stehen, die Zacken im Eis, ihr Körper merkwürdig gekrümmt.
    »Mach bitte keine Sachen! Ist dir ein Handschuh runtergefallen?«
    Im nächsten Moment erbrach sie sich. Sie kotzte geräuschlos in die Lhotse-Wand, und Mingmas Porridge wäre mehrere hundert Meter nach unten gefallen, wäre er nicht auf dem gelben Kampfpilot gelandet, der direkt unter Carla stand.
    Der Mann riss seine besudelte Sauerstoffmaske vom Gesicht, und ein Schwall von Flüchen wurde laut. Beim Versuch, sich zu entschuldigen, merkte Carla offenkundig zu spät, wie übel ihr noch immer war, worauf am Seil ein lautstarker Streit losbrach.
    Während das Wortgefecht zwischen der zerknirschten Carla, dem empörten Bulgaren und Lobsang, der sich für Carla entschuldigte, in vollem Gang war, verfolgte Jonas, wie eine Gestalt neben dem Fixseil, an der Schlange wartender Bergsteiger vorbei, ohne Sicherung allein mithilfe seiner zwei Eispickel nach oben kletterte. Als die Person bei dem Bulgaren Halt machte und auf ihn einzureden begann, erkannte Jonas, dass es sich um seinen Expeditionsleiter handelte.
    Jonas war beeindruckt. Er wusste, dass Hadan ein guter Bergsteiger war, aber solche Meisterschaft in solcher Höhe hätte er ihm nicht zugetraut. Diese Vorstellung übertraf bei weitem alles, was er an Eisklettern bei José gesehen hatte, und zwar viertausend Meter tiefer, ausgeruht und mit Sicherung.
    Nachdem er die Lage zwischen Carla und ihrem Opfer beruhigt hatte, kletterte Hadan weiter nach oben.
    »Was soll das werden?« fragte Jonas.
    »Ich will wissen, was da oben los ist. Wenn das

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