Das große Buch vom Räuber Grapsch
„Bis ich aus dem Wald heraus bin, ist alles weggetaut." Damit machte er sich auf den Weg. Er musste sich oft ausruhen, bevor er den Waldrand erreichte. Und der Wind drehte und kam nun aus Norden. Es wurde kälter. Der Schnee schmolz nicht weg. Erschöpft erreichte der Räuber um Mitternacht die Apotheke. Er hatte Glück. Der Apotheker hatte vergessen, seine Hintertür abzuschließen. Wozu auch? Bisher hatte Grapsch noch nie etwas aus der Apotheke geraubt. Und andere Räuber oder Diebe gab es nicht im Juckener Ländchen.
Grapsch leuchtete mit der Taschenlampe all die vielen Schubladen und Fächer und Regale ab. Sie waren säuberlich beschriftet. Aber nun geriet er in Schwierigkeiten, denn wenn er auch Zahlen erkennen konnte, so konnte er doch keine Buchstaben lesen. Er war ja nie in eine Schule gegangen. Und seine Eltern und Großeltern hatten auch nie lesen und schreiben gelernt.
Es half nichts: Er musste den Apotheker wecken. Und so schlich er mit der Pistole in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand die Treppe hinauf und suchte nach Herrn Eduard Pillowitsch. Erst geriet er in ein Badezimmer, dann in eine Rumpelkammer, aber schließlich fand er doch das Schlafzimmer, knipste das Licht an, knurrte „Hände hoch!" und trieb den Apotheker samt seiner Frau die Treppe hinunter.
„DOKTOR SCHNUFFS Blasentee!", herrschte er sie an.
„Gib ihm, was er haben will", wimmerte Frau Pillowitsch, „sonst bringt er uns um, Eduard!"
Mit zitternden Händen setzte sich der Apotheker die Brille auf und griff aus einer Schublade eine Packung DOKTOR SCHNUFFS Blasentee. Grapsch stopfte sie sich in die Hosentasche, jagte die Pillo-witschs wieder hinauf in ihr Schlafzimmer und verließ die Apotheke. Aber da er sich sehr schwach in den Knien fühlte, kehrte er auf dem Heimweg noch im Gasthof zum goldenen Wildschwein ein. Er torkelte in die Speisekammer der Wirtin, hob drei riesige Wurstkränze vom Haken, hängte sie sich um den Hals und stapfte wieder hinaus.
Und schon raste die Polizei mit Tatütata durch die Straßen von Juckenau. Alle Juckener wachten auf, spähten furchtsam aus den Fenstern und flüsterten: „Der Grapsch geht wieder um."
Grapschs Stiefelspuren Nummer neunundvierzig im Schnee zeigten den Polizisten den Weg. Noch vor dem Waldrand holten sie ihn ein. Es gelang ihm zwar, dem Hauptmann Sieghelm Stolzenrück den Schnurrbart von der Oberlippe zu schießen. Aber als er mit seinen letzten Kräften zwei Polizisten am Genick packte und mit den Köpfen zusammenstieß, erwischte ein dritter von hinten die Wurstkränze, zog daran und schnürte so dem Räuber die Luft ab. Da brach er in die Knie. Und so kam's, dass sie ihn überwältigen und fesseln konnten. Mit Siegesgeschrei brachten sie ihn zurück in die Stadt und sperrten ihn ins Gefängnis neben der Polizeiwache. Tee, Würste und Stiefel wurden ihm abgenommen. „Sie Schuft, Sie!", schnaubte der Polizeihauptmann Stolzenrück mit einem Heftpflaster auf der Oberlippe, „Ihnen werd ich's abgewöhnen, meiner Frau den Pelzmantel und mir die Stiefel zu rauben - und vor allem, mich zu verstümmeln!"
„Olli!", brüllte Grapsch bis zum Morgen und rüttelte an den Gitterstäben des kleinen Fensters. „Olli, ach Olli!" Man hörte es in der ganzen Stadt.
Am nächsten Tag feierten die Juckener ein Freudenfest mit Feuerwerk und Freibier. Der Polizist, der den Räuber mit der Wurst gewürgt hatte, bekam einen Orden angesteckt, während die Blaskapelle der Stadt Juckenau das Juckener Heimatlied spielte. Schon ein paar Tage später gab's in Juckenau eine große Gerichtsverhandlung. Der Gerichtssaal war gerammelt voll. Alle Juckener Bürger wollten zuschauen. Es dauerte über eine Stunde, bis der Richter alle Untaten des Räubers verlesen hatte. Und als er ihn anherrschte: „Geben Sie zu, dass Sie das alles getan haben, Tassilo Grapsch?", antwortete der Räuber ungeduldig: „Aber ja doch, Teufel noch mal - wer denn sonst ?"
Er wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Alle applaudierten und johlten.
„Wartet nur", brüllte Grapsch, „wenn ich erst wieder stark bin -dann könnt ihr was erleben! Wenn mich die verdammten Fliegenpilze nicht so aufs Kreuz gelegt hätten, wär's euch nie gelungen, mich zu kriegen!"
„Aha", sagte Polizeihauptmann Stolzenrück. „So ist das also. Na, dann werden wir schon dafür sorgen, dass Sie nicht wieder stark werden. Gebt ihm nur Wasser und Brot."
Bei Wasser und Brot und sonst nichts ist noch niemand stark geworden. Und so
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