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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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irgendeinem Grund dachte ich an meine Großmutter, die ich, bevor sie starb, regelmäßig an der West End Avenue besucht hatte. Ich dachte an meine Kindheit, an meine Mutter und an meinen Vater, die inzwischen beide tot sind, aber deren Kind ich genauso unentrinnbar bin und bleibe, wie ich den ekelhaft vertrauten Dimensionen meines Geistes nicht entrinnen kann. Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, Euer Ehren. Ich weiß, dass sich für mich nichts ändern wird. Dass sich bald, vielleicht nicht morgen oder nächste Woche, aber schon sehr bald die Wände um mich und das Dach über mir wieder schließen und genauso sein werden, wie sie vorher waren, und dass die Antwort auf die Frage, die alles zum Einstürzen gebracht hat, in einer Schublade verschwinden wird, weggesteckt und weggeschlossen. Dass ich so weitermachen werde wie immer, mit oder ohne den Schreibtisch. Verstehen Sie, Euer Ehren? Sehen Sie, dass es zu spät für mich ist? Was sonst würde ich werden? Wer würde ich sein?
    Eben haben Sie die Augen aufgeschlagen. Dunkle, graue Augen, vollkommen wach, die mich einen Moment mit ihrem Blick umfingen und auf mir haften blieben. Dann schlossen sie sich wieder, und Sie dämmerten hinweg. Vielleicht spüren Sie, dass ich zum Ende komme, dass die Geschichte, die von Anfang an auf Sie zugerast ist, gleich um die Straßenkurve biegt, wo sie schließlich mit Ihnen zusammenstößt. Ja, weinend und zähneknirschend wollte ich Sie um Verzeihung bitten, Euer Ehren, und was herauskam, war eine Geschichte. Ich wollte nach dem beurteilt werden, was ich aus meinem Leben gemacht habe, aber nun wird sich das Urteil darauf gründen, wie ich es beschrieben habe. Aber vielleicht ist es recht so. Wenn Sie sprechen könnten, würden Sie vielleicht sagen: So ist das Leben nun einmal. Nur vor Gott stehen wir ohne Geschichten. Aber ich bin nicht gläubig, Euer Ehren.
    Die Schwester wird bald kommen und eine neue Dosis Morphium verabreichen, Ihre Wange mit der sanften Leichtigkeit berühren, die denen eigen ist, die es zu ihrem Lebenszweck gemacht haben, sich um andere zu kümmern. Sie sagte, morgen würde man Sie aufwecken, und nun ist es schon beinahe morgen. Sie wusch das Blut von meinen Händen. Sie nahm eine Bürste aus ihrer Tasche und strich mir damit übers Haar, genau wie meine Mutter es immer gemacht hatte. Ich langte hinauf und hielt ihre Hand ruhig. Ich bin diejenige, die – begann ich zu sagen, aber da brach ich ab.
    Sie standen wie angenagelt im Scheinwerferlicht, so still, dass ich in dem Bruchteil einer Sekunde, der mir zum Denken blieb, dachte, Sie hätten auf mich gewartet. Dann das Kreischen der Bremsen, der Aufprall des Körpers. Das Auto rutschte und blieb stehen. Mein Kopf stieß gegen das Lenkrad. Was habe ich getan? Die Straße war leer. Wie lange dauerte es, bis ich das vor Schmerzen abgrundtiefe Stöhnen hörte und begriff, dass Sie am Leben waren? Bis ich Sie zusammengebrochen im Gras fand und Ihren Kopf in meine Hände nahm? Bis zum Heulen der Sirene, zu den roten Streifen der Rücklichter, zum Morgengrauen, das durchs Fenster fiel, als ich erstmals Ihr Gesicht sah? Was habe ich getan? Was habe ich getan?
    Alles scharte sich um Sie. Man hängte Sie wieder ans Leben wie einen Mantel, der vom Haken gefallen ist.
    Sprechen Sie mit ihm, sagte sie, während sie die lockere Elektrode auf Ihrer Brust fixierte. Es tut ihm gut, Sie zu hören. Gut? Sie sagte: Es tut Ihnen gut zu sprechen. Worüber? Sprechen Sie einfach. Wie lange?, fragte ich, obwohl ich wusste, dass ich an Ihrer Seite bleiben würde, solange sie mich ließen, bis Ihre wahre Frau oder Geliebte kam. Sein Vater ist unterwegs, sagte sie und schloss die Vorhänge um uns. Für tausendundeine Nacht, dachte ich. Und länger.

Schwimmlöcher
    Lotte erinnerte sich bis zum allerletzten Moment an mich. Ich war derjenige, der oft glaubte, mich nicht mehr an den Menschen zu erinnern, der sie einmal gewesen war. Ihre Sätze begannen ziemlich mühelos, aber dann gerieten sie ins Stocken und versanken in Vergessenheit. Auch verstand sie mich nicht mehr. Manchmal schien es, als hätte sie verstanden, aber selbst wenn es gelang, dass irgendeine Wortkombination, die ich anbot, einen Funken Sinn in ihrem Geist entzündete, war er ihr im nächsten Moment wieder entfallen. Sie starb schnell, ohne Schmerzen. Am 25. November feierten wir ihren Geburtstag. Ich holte einen Kuchen aus ihrer Lieblingsbäckerei in Golders Green, und wir beide pusteten gemeinsam die Kerzen aus. Zum

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