Das große Haus (German Edition)
einzugestehen, aber so schien es mir. Er war fast dreißig Jahre jünger als sie. Nicht dass ich vermutet hätte, Lotte wäre mit ihm ins Bett gegangen – der bloße Gedanke war einfach zu weit entfernt von den Gesetzen, die unser kleines Universum beherrschten. Aber wenn sie nicht auf seine Avancen eingegangen war, hatte sie ihn doch nicht abgewiesen – sie hatte ihn hingehalten oder seine Hoffnungen genährt, eine gewisse Intimität musste erlaubt gewesen sein, und ich sah oder glaubte zu sehen, dass dieser Lederjackentyp, der es sich an meinem Schreibtisch bequem gemacht hatte, mich schamlos vorführte.
Ich wusste, egal was ich Lotte zu diesem Zeitpunkt sagen mochte, sie würde es mit Zorn beantworten – die Vorstellung, dass ich einen Verdacht hegte und sie heimlich beobachtet hatte, würde ihr als unerträglicher Übergriff erscheinen. Welches Recht maßte ich mir an? Verstehen Sie, mir waren die Hände gebunden. Und doch war ich mir sicher, dass hinter meinem Rücken etwas vor sich ging, selbst wenn es nur in Wunschform war.
Ich begann einen Plan zu schmieden, der nicht eingängig erscheinen mag, damals aber seinen Sinn hatte. Ich würde für vier Tage fortgehen, sie als Test miteinander allein lassen. Ich würde mich, das lästige Hindernis, selbst aus dem Weg räumen und Lotte jede Gelegenheit geben, mich mit dieser Jugend zu betrügen, diesem angeberischen Schnösel in seiner Lederjacke, seinen engen Jeans und seinen Zeilen von Neruda, die er ihr sicher aus ein paar Zentimetern Abstand atemlos ins Gesicht hauchte. Während ich dies nach all den Jahren, die dazwischen liegen, niederschreibe, im langen Schatten des tragischen Schicksals, das der Junge erlitten hat, kommt es mir lächerlich vor, aber seinerzeit war es die gefühlte Wirklichkeit. In meiner Verzweiflung, mit verletztem Stolz, wollte ich Lotte zwingen, oder ich glaubte sie zwingen zu wollen, das zu tun, was sie meiner Überzeugung nach begehrte: sich ihre Wünsche zu erfüllen, statt sie heimlich zu hegen, und uns beide den schrecklichen Konsequenzen, die daraus folgen würden, auszuliefern. Obwohl ich in Wahrheit nichts anderes suchte als den Beweis, dass sie nur mich wollte. Fragen Sie mich nicht, mit welchen Beweisen ich die Dinge so oder so zu entscheiden hoffte. Wenn ich zurückkomme, sagte ich mir, wird alles klar sein.
Ich teilte Lotte meine Absicht mit, an einer Tagung in Frankfurt teilzunehmen. Sie nickte, und ihr Gesicht verriet nichts, obwohl ich mich später, als ich in meinem jämmerlichen Hotelzimmer lag, während nichts geschah und alles immer schlimmer wurde, an ein kleines Funkeln in ihren Augen zu erinnern glaubte. Ein- oder zweimal im Jahr besuchte ich Tagungen zur Englischen Romantik, die in ganz Europa abgehalten wurden, kurze Versammlungen, die den Teilnehmern vielleicht ein ähnliches Gefühl vermittelten, wie Juden es empfinden, wenn sie in Israel aus dem Flugzeug steigen: die Erleichterung, endlich nach allen Seiten hin unter Ihresgleichen zu sein – die Erleichterung und den Horror. Lotte begleitete mich selten auf solchen Reisen, weil sie ihre Arbeit ungern unterbrach, und aus diesem Grund sagte ich von vornherein alle Tagungen ab, die auf anderen Kontinenten stattfanden, in Sydney, Tokio oder Johannesburg, deren einheimische Wordsworth- oder Coleridge-Experten immer glücklich waren, wenn sie ihre Freunde und Kollegen einmal im eigenen Land begrüßen durften. Ja, ich lehnte diese Einladungen ab, weil sie mich zu lange von Lotte entfernt hätten.
Ich weiß nicht mehr, warum ich mir Frankfurt ausgesucht habe. Vielleicht hatte es dort kürzlich eine Tagung gegeben oder es stand eine bevor, sodass keiner meiner Kollegen bei einer zufälligen Begegnung mit Lotte stutzig würde, wenn eine Tagung in Frankfurt zur Sprache käme. Oder ich hatte Frankfurt ausgewählt, weil ich nie gut im Lügen und der Name so gebieterisch war, die Stadt aber zugleich nicht interessant genug, um Misstrauen zu erregen, wie etwa Paris oder Mailand. Nur war die Vorstellung einer misstrauischen Lotte sowieso absurd. Also habe ich es mir vielleicht ausgesucht, weil ich wusste, dass Lotte nie und nimmer nach Deutschland zurückkehren würde und gewiss nicht auf die Idee käme, mir ihre Begleitung anzubieten.
Am Morgen meiner Abreise stand ich sehr früh auf, zog den Anzug an, den ich im Flugzeug immer trug, und trank meinen Kaffee, während Lotte noch schlief. Dann wanderte ich einmal durchs ganze Haus, um einen letzten Blick zu werfen, als
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