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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Sachen, die in Miniatur jeden Zierrat des menschlichen Lebens enthielten, nur dass wir statt unter die Erde in den Himmel hinauf gestiegen waren und das wilde Versteck des Jungen nicht den wohligen Geruch von Wärme und Geborgenheit verströmte, sondern nach Isolierung und Einsamkeit stank. Gigi ging an eines der Fenster, schaute hinaus und fröstelte, und bei diesem Anblick kam mir eine Vision unseres Turms von außen, eine leuchtende Glaskabine, die mit zwei Probanden im Experiment des menschlichen Lebens auf einem dunklen Meer trieb. Auf der Fensterbank standen drei oder vier Metallsoldaten mit abgesprungenen Farben, in Kampfhaltung erstarrt. Ich wollte meinen Arm um den Jungen legen, ihm sagen, am Ende werde alles gut, nicht ideal, vielleicht nicht einmal glücklich, aber gut. Doch aus lauter Angst, ihn zu erschrecken, rührte ich mich nicht, und da mir auf Französisch die richtigen Worte fehlten, sagte ich auch nichts. An der Wand hing ein Foto von einer Frau mit verwegenem Haar und einem locker um den Hals geschlungenen Schal. Gigi drehte sich um und sah, dass ich es anschaute. Er kam herüber, nahm das Foto von der Wand und legte es unter sein Kopfkissen. Dann schlüpfte er unter den Haufen Decken, rollte sich zusammen und schlief ein.
    Ich schlief ebenfalls. Als ich zum zweiten Mal in dieser langen Nacht erwachte, lag Gigi wie eine Katze an mich gekuschelt da, und der Himmel wurde hell. Da ich den Jungen nicht allein lassen wollte, hob ich ihn so sanft ich konnte in meine Arme. Ich hatte keine Geschwister gehabt, meiner Erinnerung nach war er überhaupt das erste Kind, das ich auf den Armen trug, und ich war überrascht, wie leicht er sich anfühlte. Jahre später, als ich meinen eigenen, meinen und Joavs Sohn in den Armen hielt, dachte ich manchmal an Gigi. Halbwach murmelte er etwas Unverständliches, dann schlief er an meiner Schulter weiter. Ich ging mit ihm, den schlaffen Körper mit baumelnden Beinen an mich gedrückt, die Treppe hinunter, durch Türen und Fluchten endloser Gänge, bis ich dank einem Trick oder einer zufälligen Abkürzung hinter einer niedrigen Tür in einen kurzen Korridor gelangte, der mich in einen anderen Korridor und über diesen schließlich in die große Eingangshalle führte, an die Stelle, wo Leclercq uns begrüßt hatte, während der riesige Leuchtkörper fast unmerklich schwingend wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf hing, jedenfalls stellte ich es mir damals so vor, als ich, entnervt von diesem Schloss bei Nacht, den Mut für den Rest der Odyssee nur noch aufbrachte, weil ich Gigis leisen warmen Atem an meinem Ohr spürte. Ich verfolgte dieselben Stufen zurück, die Joav, Leclercq und ich bei unserer Ankunft genommen hatten, und kam wieder an dem großen Spiegel vorbei, halbwegs darauf gefasst, der Junge würde sich als Geist erweisen, ohne Spiegelbild, aber nein – so schlecht ich bei dem wenigen Licht auch sehen konnte, ich erkannte die Umrisse von zwei Personen. Als ich jene Tür erreichte oder erreicht zu haben glaubte, die Leclercq aufgeschlossen hatte, um uns den Blick auf den Park zu zeigen, verlagerte ich Gigis Gewicht auf einen Arm und probierte die Klinke. Sie gab leicht nach. Leclercq muss vergessen haben, hinter uns abzuschließen, dachte ich, und trat ein, um einen Augenblick die Aussicht auf den Garten im grauen Licht der Dämmerung zu genießen, ein Licht, das ich immer besonders gemocht hatte, weil es alle Dinge in ihrer fadenscheinigen Zerbrechlichkeit erscheinen lässt. Aber der Raum, in dem ich jetzt stand, war dunkel und ohne Aussicht, oder die Sicht war von schweren Vorhängen versperrt, wobei es möglich, aber unwahrscheinlich schien, dass Leclercq sie vor dem Schlafengehen zugezogen hatte. Sekunden vergingen, und irgendwie begann ich zu spüren, dass dieser Raum viel größer sein musste als der, in dem ich gewesen war, kein Zimmer, sondern eher ein Saal, und ich gewahrte eine Art stumme Gegenwart in den Schatten, die allmählich zahlreiche, vielfältige Gestalten annahmen, unterschiedlich groß in langen Reihen versammelt, eine sich nach allen Seiten erstreckende melancholische Masse, die sich in den hintersten Ecken des gewölbten Saals verlor. Obwohl ich kaum sehen konnte, waren mir die Formen bekannt. Ich erinnerte mich plötzlich an ein Foto, auf das ich vor ein paar Jahren bei Recherchen über das Werk Emanuel Ringelblums für einen Geschichtskurs auf dem College gestoßen war, das Bild einer großen Gruppe Juden auf dem Umschlagplatz am

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