Das große Haus (German Edition)
Warschauer Ghetto, alle auf formlosen Säcken oder am Boden sitzend oder hockend, in Erwartung ihrer Deportation nach Treblinka. Das Foto hatte mich damals sehr berührt, nicht nur wegen des Meeres von Augen, die alle auf die Kamera gerichtet waren und sinnfällig machten, wie die Bedrückung an diesem Ort es dem Fotografen erlaubte, sich Gehör zu verschaffen, sondern auch wegen der wohlüberlegten Komposition, um die nämlicher Fotograf sich offensichtlich sehr bemüht hatte, bedacht auf die Nuancen, den spiegelbildlichen Effekt der blassen Gesichter unter schwarzen Hüten oder schwarzen Schals vor dem scheinbar unendlichen Muster heller und dunkler Steine der Mauer hinter ihnen, die sie gefangen hielt. Hinter dieser Mauer erhob sich ein rechtwinkliges Gebäude mit Reihen quadratischer Fenster. Das Ganze vermittelte den Eindruck einer gebieterischen geometrischen Ordnung, die nur so und nicht anders sein konnte, in der jedes gewöhnliche Material – ob Juden, Mauersteine oder Fenster – seinen eigenen, unwiderruflichen Platz hatte. Meine Augen passten sich allmählich an, und statt die Dinge nur mit irgendeinem siebten Sinn vage zu erfühlen, sah ich sie nun wirklich, Esstische, Stühle, Sekretäre, Truhen, Lampen und Tischchen, alle abmarschbereit in dem Saal versammelt, als warteten sie auf eine Vorladung, und ich erinnerte mich, warum mir das Foto von den Juden auf dem Umschlagplatz ausgerechnet jetzt eingefallen war, erinnerte mich mit anderen Worten, dass ich im Zuge meiner Recherchen über Ringelblum auch verschiedentlich Fotos von Synagogen und jüdischen Warenhäusern gesehen hatte, die als Depots für die von der Gestapo erbeuteten Möbel und Haushaltsgegenstände aus den Wohnungen deportierter oder ermordeter Juden dienten, Fotos, die ganze Armeen hochkant gestellter Stühle zeigten, wie in einem über Nacht geschlossenen Speisesaal, Türme gefalteter Tischwäsche und Regale voller Silberbesteck, sortierte Löffel, Messer und Gabeln.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, am Rand dieses Feldes unbenutzter Möbel. Unterdessen war Gigi in meinen Armen schwer geworden. Ich schloss die Tür hinter mir und suchte den Weg zu unserem Zimmer. Joav schlief noch. Ich legte Gigi neben ihn ins Bett und wachte über sie, zwei mutterlose Jungen, Seite an Seite schlafend. Irgendwie bekam ich ein hohles Gefühl im Magen. Ich war mir meiner Aufgabe bewusst, die beiden zu behüten, und während der Himmel unmerklich heller wurde, tat ich es. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, werde ich das Gefühl nicht los, in diesem Moment sei die Seele des Kindes, das Joav und ich zusammen haben würden, die Seele unseres kleinen David, lautlos und unbemerkt durchs Zimmer gehuscht. Meine Augenlider wurden schwer, dann fielen sie vollends zu. Als ich aufwachte, war das Bett leer, und im Bad lief die Dusche. Joav tauchte frisch rasiert aus einer Dunstwolke auf. Von Gigi keine Spur, und als Joav ihn nicht erwähnte, sagte ich auch nichts.
Das Frühstück wurde in dem kleineren der beiden Esszimmer eingenommen, an einem Tisch, der immer noch für sechzehn oder zwanzig Personen gereicht hätte. Irgendwann in der Nacht oder am frühen Morgen war Kathelijn, die Haushälterin, zurückgekehrt. Leclercq setzte sich ans Kopfende des Tisches, bekleidet mit derselben Strickweste wie am Vortag, nur dass er jetzt eine graue Sportjacke darüber trug. Ich erforschte sein Gesicht nach Anzeichen von Grausamkeit, fand aber nur die eingefallenen Züge eines alten Mannes. Bei Tageslicht erschien das, was ich mir über den Saal mit den Möbeln vorgestellt hatte, absurd. Es lag auf der Hand, dass es entweder gesammelte Stücke von den vielen Gütern waren, die der Familie Leclercq gehört hatten, bevor sie bankrottging und alles verkaufen musste, oder es war einfach Mobiliar aus den unbewohnten Teilen des Schlosses dort zusammengerückt worden.
Von Gigi war nichts zu sehen. Die Haushälterin tauchte im Lauf des Frühstücks mehrfach auf, zog sich aber immer schnell wieder in die Küche zurück. Es kam mir vor, als sähe sie mich mit einem gewissen Missfallen an, aber ich war mir nicht sicher. Als wir fast fertig waren, wandte sich unser Gastgeber an mich. Wie ich gehört habe, sind Sie meinem Großneffen begegnet, sagte er. Verwirrung umwölkte Joavs Gesicht. Leclercq fuhr fort: Ich hoffe, er hat Sie nicht gestört. Er bekommt nachts oft Hunger. Normalerweise stellt Kathelijn ihm etwas zu essen ans Bett. Ich muss es vergessen haben. Um wen geht es?,
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