Das große Leuchten (German Edition)
grüßen und nächstes Mal mitbringen würde, dass sie grade mit der Renovierung der Wohnung beschäftigt sei, in die wir ziehen würden – was doch immerhin beruhigend klingen musste, auch wenn es nicht hundertprozentig stimmte.
Er zupfte sich am Ohr. Wirkte käsig und verstopft. Fing dann mit diesem etwas gruseligen Murmeln an, das nach und nach lauter wurde, mit diesem kratzigen Schimpfen, das in Wahrheit eine Anklage gegen mich war. Als wäre ich derjenige, der schuld war an seinem Leben.
Die Flucht Richtung Türkei … beziehungsweise die Schleuser, die sich erst weigerten, ein Baby mitzunehmen … sodass man erst mal Ewigkeiten in einer eiskalten Berghöhle festsaß … bis Simin sich opferte und mit einem der Schleuser schlief, erklärte er mir.
Und das Schneegebirge, der eisige Wind, die Pferde, die rückwärts zu laufen schienen, was aber daran lag, dass Omid vollkommen kraftlos war und halluzinierte. Und Ana, die zwei Tage lang die Augen nicht mehr aufmachen wollte, sodass man sich schon nach einem Platz zum Beerdigen umsah, ehe man endlich die Grenze zur Türkei erreichte. Und wie Omid die Grenzsäule immer wieder anfassen musste, um sich zu überzeugen, dass es sie wirklich gab.
«Willst du das hören?», sagte er. «Soll ich dir DAS erzählen?»
Ich sagte nichts, er schien vergessen zu haben, dass er mir den Großteil schon mehrmals erzählt hatte – ich versuchte, mich an das Abenteuergefühl zu erinnern, das ich damals beim Zuhören empfunden hatte: wie sie mit dreißig Iranern in einem Lkw unterkamen, hinter einer Ladung von Teppichen versteckt, und wie es stank, weil jemand den Piss-Kanister umgeschmissen hatte. Und anschließend dieses winzige versteckte Zimmer in Istanbul, in dem Simin Platzangst bekam und Zärtlichkeiten von ihm hören wollte – während er nicht in der Lage war, irgendwas Zärtliches zu sagen, weil es so kalt war und weil der Schleuser mit dem Brot nur unregelmäßig kam. Und nach Ewigkeiten das Erscheinen des Oberschleusers in seinem Pelzmantel – und wie er Witze machte und Simin an die Brüste fasste und wie Simin trotzdem freundlich lächelte, weil sie Brennholz haben wollte. Und wie der Oberschleuser dann wieder ging und sich fünf Wochen nicht zeigte, sodass Omid schon fast aufgegeben hatte, als sie plötzlich doch noch die neuen Pässe bekamen. Als sie plötzlich in den Istanbuler Straßen waren, im Flughafen, mit den Tickets. Er mit Ana im Arm und Simin hinter ihm. Und wie sie zwischen den Shops durchgingen mit ihren neuen Pässen und wie er jetzt Türke war und Amir Rahbarsare hieß, was ja witzig sei, was ich ja sicher witzig finden würde, obwohl es überhaupt nicht witzig gewesen sei.
Weil der Beamte an der Kontrolle über Simins Foto rieb und feststellte, dass es ausgetauscht war, und weil sie schrie, während er und Ana schon hinter der Kontrolle waren. Und weil Simin dann plötzlich wegrennen musste und er sie nie mehr wiedersehen konnte – und weil ihm seitdem alles sinnlos vorkam, weil sie nämlich vom Schicksal füreinander bestimmt gewesen waren, als Familie. Weil sie noch viel mehr Kinder zusammen kriegen wollten. Und weil ja nicht nur die Beamten an der Kontrolle Teufel waren, sondern alle anderen Menschen auch – weil sich nie einer für den anderen interessiere. Weil immer alle nur so tun würden. Im Grunde sei es nämlich so, dass die ganze Menschheit eine Masse von Blinden sei, das habe schon sein Vater immer gesagt – die alle gar nichts sehen könnten außer ihre eigenen Angelegenheiten. Wer würde schon freiwillig die Augen aufmachen ? Ich doch sicher nicht, ich sogar ganz und gar nicht, ich sei ja eher daran interessiert, ihm die Tochter wegzunehmen.
Ich hatte ihm eigentlich die Namenstassen zeigen wollen, ließ es aber doch lieber sein.
Denn während ich ihn ansah, war ich mir plötzlich ganz sicher, die Gesamtsituation zu erfassen. Dass ich nämlich einen psychisch kranken Mann vor mir hatte, einen, mit dem man Mitleid haben musste. Ich fragte nicht mehr, aber es war ganz offensichtlich so, dass er die Tatsache verdrängte, dass Simin nichts mehr von ihm wissen wollte – dass sie einfach freiwillig im Iran zurückgeblieben war, weil sie gegen die Regierung kämpfen wollte, wie Ana gesagt hatte. Während er in Deutschland keinen Anschluss gefunden hatte. Ja, wahrscheinlich wusste er das selbst ganz genau und glaubte trotzdem an sein eigenes Märchen, weil es so einfacher für ihn war. Es war absurd, weil er genau das allen
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