Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
und mir wie die anderen Westtouristen meine Verspannungen von einer miserabel bezahlten analphabetischen Masseuse mit Öl beträufeln lasse (oh, da wächst sie wieder, die Faust in der Tasche). Stattdessen konzentrierte ich mich lieber auf mein nächstes Ziel Tokyo, machte ein Apartment klar, kontaktierte die ersten Leute.
Und dann passierte Fukushima. Und plötzlich wurde alles anders.
Ich sitze seit Tagen in meinem Hotelzimmer vor dem Laptop, lese die Nachrichten, sehe, wie der Tsunami ganze Dörfer wegschwemmt, sehe die Explosionen in den Kernreaktoren, versuche zu begreifen, was da passiert ist und immer noch passiert. Ich weiß, ich muss bald eine Entscheidung treffen, aber ich bin wie gelähmt. Was mache ich? Fahre ich trotzdem nach Japan, jetzt erst recht? Oder jetzt auf keinen Fall, weil noch keiner eine Ahnung hat von Nachbeben, Kernschmelzen, radioaktiver Belastung? Aber man muss doch jetzt nach Tokyo, man kann die doch nicht einfach im Stich lassen! Blödsinn, ich weiß, aber bei mir regiert gerade ausschließlich das Stammhirn. Ich brauche sicher noch ein paar Tage, bis sich die Vernunft wieder einschaltet. Ich bin gerade völlig durcheinander.
Oder soll ich ganz abbrechen? Die Reise hat– auch durch Mumbai– alles Spielerische verloren, alle Leichtigkeit. Mein Plan, lustig über den Erdball zu hopsen und überall mal meinen großen Zeh reinzuhalten, kommt mir gerade seltsam unanständig vor. Die Lage ist ernst, die Welt ist aus der Bahn geworfen. Darf ich da einfach weiter mein Ding durchziehen? Oder ist das nur wieder so eine typisch deutsche Frage? Was würdest Du an meiner Stelle tun? Sattel Dein Motorrad und rette mich, großer Reiseguru!
Nein, tu’s nicht. Ich warte jetzt auf Rose, die landet hier am Wochenende. Dann werden wir uns betrinken, dann werden wir nach Rajasthan reisen, und dann wird alles gut. Und Du kriegst aus jedem Ort eine Postkarten-E-Mail, versprochen. Schon allein, weil Du mein Gequengel hier aushalten musstest.
Fette Umarmung von Deiner M
PS : Dies wollte ich Dir doch noch zeigen, weil es mich gerade so gerührt hat; gefunden im kleinen Ghandi-Museum hier um die Ecke.
Im obersten Stock finden sich lauter fernsehergroße Schaukästen mit Szenen aus Ghandis Leben. Der Augsburger-Puppenkisten-Charme ist an sich schon mal bezaubernd, aber ganz wunderbar tränentreibend ist die Todesszene von Kasturba, mit der Ghandi 62Jahre lang verheiratet war: er im Schneidersitz, sie mit dem Kopf in seinem Schoß. Sie wurden mit sieben Jahren miteinander verlobt, bei der Hochzeit waren sie 13 und 12. Angeblich sind arrangierte Ehen nach einigen Jahren Zusammenleben ja so glücklich wie unsere westlichen Liebesheiraten. Für uns gilt: Entweder die Liebe bleibt oder sie bleibt nicht. Für arrangierte Ehen: Entweder die Liebe kommt oder sie kommt nicht.
Und dann hängt da noch, nicht minder tränentreibend, ein fotokopierter Brief. Adressiert ist er an » Herr Hitler, Berlin, Germany«, datiert auf Juli 1939, kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs. » Dear friend«, so beginnt er. Er, Ghandi, habe bisher trotz der Bitten seiner Freunde nicht schreiben wollen, weil er befürchtet habe, ein Brief werde als Impertinenz empfunden. » Es ist offensichtlich, dass Sie heute der einzige Mensch auf der Welt sind, der einen Krieg verhindern kann, der die Menschheit vielleicht in den Zustand der Barbarei zurückwirft. Ich erhoffe Ihre Vergebung, sollte ich mich geirrt haben. Ihr aufrichtiger Freund, M. K.Gha ndi «.
Tja. Einen Versuch war es wert.
Lieber Clemens,
ich sitze am Flughafen Delhi und warte auf meinen Flug nach Shanghai. Denn das ist die Entscheidung, schweren Herzens: nicht nach Tokyo, es ist mir einfach noch zu brenzlig dort. Zwei Wochen nach Fukushima weiß immer noch keiner etwas über die Folgen, ich lese mich quer durchs Internet und bin täglich verwirrter. Ich habe lange hin und her überlegt, aber es hätte was von Katastrophenvoyeurismus, jetzt ins Land zu reisen. Also: alles anders, die Städte werden neu gemischt. Ich ziehe Shanghai um einen Monat vor. Und danach? Muss ich sehen. Wird mir schon einfallen.
Ich ahne, dass in Deutschland wegen Japan gerade mal wieder die Welt untergeht, und bin froh, nicht da zu sein. Während die Japaner, soweit ich das hier draußen mitbekomme, gelassen und völlig unhysterisch die Lage meistern, bevorratet man sich im fernen Deutschland mit Jodtabletten. German Angst. Etwas, das ich definitiv nicht vermisse.
Es war mir
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