Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
später…
8. Dass man jede Sache immer auch aus einer anderen Perspektive sehen kann. Außen an Restaurants und auf Speisekarten steht oft » non-veg«, nicht-vegetarisch: Fleisch ist die Abweichung, nicht die Regel. Genau dieses Prinzip gilt für vieles, vieles andere mehr. Lohnt sich, immer mal wieder die Definitionshoheit infrage zu stellen.
9. Dass man anders ist, als man denkt, lernt man nicht nur auf Reisen, sondern auch von Freunden.
10. Am allerbesten natürlich, indem man mit ihnen reist.
April
Shanghai,
China
Liebe Eltern,
vor 40, 45Jahren habt Ihr eine Sache richtig gut gemacht und eine Sache eher schlecht, glaube ich. Die gute: Ihr habt mich ziehen lassen, und zwar ziemlich früh. Euer Aufzuchtsprinzip war konsequente Freilandhaltung. Mit sieben oder acht war ich jeden Tag für ein paar Stunden verschwunden, und Ihr hattet keine Ahnung, wo ich war. Vielleicht bei Pfaus auf der anderen Straßenseite oder in der Backstube von Dörner für warme Kuchenkanten oder hinten im Lager oder bei den Stachelbeerbüschen oder heimlich im Nachbarsgarten, keine Ahnung– das Kind würde schon wieder auftauchen, wenn es Hunger hat.
Ihr habt mich Pfeil und Bogen schnitzen und damit schießen lassen, Ihr habt mich sieben Kilometer zur Schule radeln lassen, Ihr habt nicht mal gezuckt, als ich im letzten Schuljahr ganz allein mit dem Rad durch Südengland fahren wollte– Ihr habt mich einfach nach Hamburg zur Englandfähre gebracht und hinterhergewinkt. Dass Ihr Euch um mich nie gesorgt habt (oder es Euch zumindest nicht habt anmerken lassen), habe ich nie als achtlos empfunden, ganz im Gegenteil: Es war der größte Liebes- und Vertrauensbeweis, den ich mir wünschen konnte. Lass sie nur machen. Ihr wart mein Rückenwind. Kann einem etwas Besseres passieren als Kind, als Teenager, als Erwachsene?
Und das, obwohl ich damals wie heute jede Menge merkwürdiges Zeug gemacht habe, das Euch garantiert oft in Verständnis- und Erklärungsnöte gebracht hat. Irrlichternde Interessen, brotlose Studien, problematische Lieben, bauchgetriebene Karrierestrategien (und von der Reportage im Swingerclub fangen wir besser gar nicht erst wieder an). Ich glaube, ich war für Euch immer wie ein seltsames Tierchen, das man am besten an der sehr langen Leine führt. Oder noch besser: ganz ohne Leine laufen lässt, denn die wird sowieso nur durchgenagt. Dafür liebe ich Euch sehr, denn ich glaube, nichts hat mich mehr geprägt als dieses gelassene Zutrauen von Euch, dass alles schon irgendwie gut gehen wird.
Wieso komme ich gerade darauf? Weil ich gestern in einer Situation war, die Euch vermutlich in den Wahnsinn getrieben hätte. Denn das wirklich Bemerkenswerte an Eurer Lange-Leine-Erziehung war, dass Ihr selbst Euch diese lange Leine nie gegönnt habt. Keine Ausbruchversuche, keine Risiken, keine Sehnsucht nach dem Unbekannten. Seit 45Jahren im selben Ferienort, im selben Hotel, im selben Zimmer. Genau wissen, wie dort der Schrank aussieht und in welche Schublade die Socken kommen. Die Fremde nur zu lieben, wenn man sie so gut kennt, dass sie alles Fremde verloren hat– das war Euer einziger Fehler, glaube ich. Was Euch entgangen ist! Was Ihr verpasst habt an Erlebnissen, Entdeckungen, Erkenntnissen! So schade.
Natürlich ist es immer sinnlos, andere zur eigenen Version von Glück bekehren zu wollen, das gilt für Eltern ebenso wie für Kinder. Ihr wolltet es nie anders. Und ich immer. Umso wunderbarer, dass Ihr mir stets erlaubt habt, so weit zu laufen, wie ich wollte.
Aber jetzt zu der Situation von gestern: Ich wollte einen Leserauftrag erfüllen. Ein Landschaftsarchitekt hatte mich angeschrieben, der am Bau des Neuen Botanischen Gartens Chenshan beteiligt war. Der liegt etwa 30Kilometer südwestlich des Zentrums von Shanghai: » Könnten Sie bitte mal rausfahren und nachschauen, wie es den Pflanzen geht?«
Aber gern! Ich wollte sowieso mal Grün sehen. Von der S-Bahn-Station Sheshan sollte man angeblich mit kostenlosen Leihrädern in den Park fahren können. Nach einstündiger Fahrt stieg ich aus und stellte fest: keine Räder. Ich stand ratlos da. Ein junger Chinese, der mit mir ausgestiegen war, sprach mich radebrechend auf Englisch an: » Wo wollen Sie denn hin?«
Er bot an, mich in seinem Wagen zum Park mitzunehmen. (Ich sehe Euch schon blass werden, aber er war ein Spätzchen, ich hätte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen können.) Nach einer viertelstündigen Fahrt ließ er mich vor einem Tor
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