Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
problematischen Identität und Zugehörigkeit nicht erst seit der Staatsgründung von Israel besteht, sondern in der DNA dieses Landes steckt, in jeder einzelnen Stadt. Tel Aviv gibt es gerade mal 100 Jahre, und selbst hier erzählt jedes Haus eine andere Geschichte.
In der Avenue Rothschild zum Beispiel, dem Vorzeigeboulevard der Bauhaus-Bewegung aus den Dreißigern– nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Gebäude aus dieser Zeit–, steht ein unscheinbares Haus. Es wurde von einem russischen Architekten namens Berlin für eine jemenitische Familie gebaut. Es beherbergte lange im ersten Stock eine Armenküche für orthodoxe Juden und im Erdgeschoss ein chinesisches Restaurant für die Reichen. Heute befindet sich hier eine Szenebar. Wie sich allein in diesem Haus die Völker, die Schichten, die Nutzungen mischen und abwechseln, finde ich faszinierend; gleichzeitig ist es typisch für dieses Promenadenmischungsland.
Und die Geschichte ist natürlich längst nicht zu Ende: Das Haus ist, wie alle lange verwahrlosten Bauhaus-Schätze, Objekt von Spekulation und Luxussanierung, um ausländische Investoren anzulocken, bevorzugt russische Oligarchen. Aber weil das Schicksal eine Menge von Karma versteht, werden die frisch getünchten und teuer verkauften Häuser regelmäßig von den hier unter Naturschutz herumfliegenden Fledermäusen mit Kot bombardiert. Nur auf eines ist Verlass in dieser Stadt und in diesem Land: » dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war«.
Das gilt auch für die meisten Besucher, würde ich mutmaßen. Wie gesagt, Israel ist kein gewöhnliches Reiseland. Natürlich kann man sich auch wunderbar an den Strand von Tel Aviv oder Herzliya legen und das ausgelassene Nachtleben mitnehmen. Aber man müsste schon sehr seelentaub sein, wenn man nicht wieder und wieder von existentiellen Fragen berührt und mit seinen eigenen Widersprüchen konfrontiert würde.
An einem friedlichen Samstagnachmittag schaute ich an der Mole Anglern zu, die ungerührt ihre Ruten auswarfen, während ein paar Dutzend Kilometer weiter südlich im Gazastreifen elf Menschen bei Luftangriffen starben. Wie geht das nur, fragte ich mich bei ihrem Anblick. Um mir am nächsten Tag dieselbe Frage zu stellen, als ich mich dabei ertappte, dass ich ganz normal joggen ging, als ob es nur einer dieser Tage gewesen wäre. Ich habe mich kurz erschreckt: Was machst du da, du kannst doch nicht… Doch. Kann ich.
Dieses Erschrecken über sich selbst passiert einem in Tel Aviv oft genug, in Jerusalem aber, nur 50 Kilometer weiter im Landesinneren und mit dem Taxibus Sherut leicht zu erreichen, ist es unentrinnbar. Ich war für ein paar Tage hingefahren, um mir Klagemauer, Grabeskirche, Felsendom anzusehen, über die Via Dolorosa zu wandern und zu versuchen, in dieser seltsam erstarrten Stadt, in der alle auf etwas zu warten scheinen, jeder die Hand an der Kehle des anderen, ein paar Antworten zu finden.
Natürlich war ich auch in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte.
» Jetzt warst du in so vielen unterschiedlichen Kulturen, anderen Ländern, im fernen Asien und Bonbon-Honolulu, hast Dich in den schrägsten Sachen ausprobiert und bist in bunte neue Welten abgetaucht, aber erstmals, nach dieser langen Zeit (auch wenn es Dir vielleicht vorkommt wie ein Lidschlag), erstmals habe ich das Gefühl, jetzt wo Du in Jerusalem bist, dass Du in der Fremde bist«, schrieb mir jemand an jenem Tag. Da konnte er noch gar nicht wissen, wie recht er hatte. Denn selten hatte ich ein stärkeres Gefühl der Fremde als hier, zurückgeworfen ins grässlich ferne, grässlich vertraute Deutschland vor 70 Jahren.
Yad Vashem ist nicht nur die hinlänglich aus den Nachrichten bekannte Kranzabwurfstelle, sondern ein kluges, nämlich sehr sachliches Museum über die Judenvernichtung. Es erzählt Geschichten, nicht Geschichte. Es versucht, die Opfer nicht ein zweites Mal zu begraben– unter grauenhaften Statistiken und unfassbaren Zahlen–, sondern sie sichtbar zu machen. Ich ging über das Original-Straßenpflaster des Warschauer Ghettos, stieg über die Eisenbahnschienen von Auschwitz, und alles wurde entsetzlich präsent. Geschichte, das sind die Lügen der Sieger, las ich gerade im neuen Roman von Julian Barnes. Yad Vashem widerlegt geduldig jeden Versuch einer Lüge mit Dokumenten und noch mehr Dokumenten.
Schon gleich zu Beginn der Ausstellung war es um meine Fassung geschehen: In einer Vitrine am Eingang lagen angekokelte Fotos aus den Taschen von
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