Das Große Spiel
Seidenmantel vom Leib und verrenkte ihm dabei beinahe die Schulter.
John Law rannte im Laufschritt Richtung Themse. Er rannte durch enge, schlecht beleuchtete Gassen und Straßen. Aus jeder Mauernische glaubte er Stimmen zu hören, Schreie, verzweifelte Schreie, Rufe, dann plötzlich wieder Stille, eilige Schritte, Hufgetrappel, ein stöhnender Ochse, das Knarren eines Wagens, dann wieder Hilferufe, jemand der Geld forderte, eisenbeschlagene Stiefel auf Piastersteinen, wollüstiges Stöhnen aus einem erhöhten Stockwerk, dann wieder die elende Stimme eines Obst- oder Gemüse Verkäufers, Peitschenhiebe, Streithähne, die sich traten und schlugen, und John Law rannte weiter und weiter in Richtung Themse, kämpfte sich durch Berge von Müll und Unrat, totes Getier, heulende Hunde und aufgeschreckte Bettler, die ihn verfluchten oder festzuhalten versuchten. John glitt in Kothaufen aus, stürzte in faulig stinkende Fischabfälle und rannte weiter und weiter, bis er glaubte, die Themse riechen zu können.
Die beiden Wächter, die im King's Bench die Gitterstäbe zersägt hatten, staunten nicht schlecht, als sie John Laws Lederbeutel öffneten: nichts als wertlose Steine.
»Dieser verfluchte Kartenspieler«, sagte der erste Wächter.
»Wie konnte er nur so schlecht von uns denken«, schimpfte der zweite Wächter.
»Wir sollten Alarm schlagen. Ich glaube, ein Gefangener ist entkommen«, überlegte der erste.
»Ja, ich glaube, er hat die Gitterstäbe durchgesägt«, sinnierte der zweite. »Wir brauchen dickere Stäbe«, meinte der erste.
»Bloß das nicht«, lachte der zweite, »es war schon so eine Mordsarbeit.«
Am Ende der Straße schien sich ein Wald zu erheben, ein Wald von hunderten von Schiffsmasten. Doch der Weg dorthin schien ihm versperrt. John Law sah die Fuhrwerke, Kutschen, Pferde, Ochsen, Schubkarren und die wie Ameisen herumwuselnden Menschen, die ihn noch von der Themse trennten. Nachts war es hier genauso laut wie am Tag. Der Pöbel war überall im Gedränge verborgen und hielt Ausschau nach Taschentüchern, Batisttüchern, Geldbörsen, Perücken, Schnupftabakdosen oder Spazierstöcken, die man im Vorbeidrängen leicht entwenden konnte. Überall wurde geflucht und geschrien, nach Hilfe gerufen, aber kein Mensch drehte sich um, weil es sinnlos war, in dieser wimmelnden Masse jemandem zu Hilfe zu eilen. In der Regel kamen sie zu dritt oder zu viert. Während der eine beim Anrempeln etwas entwendete, schirmten die anderen drei den Fluchtweg ab und schrien wütend auf den Bestohlenen ein, weil der sie angeblich angerempelt hatte. Sie machten das Opfer zum Täter. Aus den umliegenden Häusern wurde man mit Kot und Urin beworfen, als stünde das Jüngste Gericht bevor. Auch die Londoner hatten die Angewohnheit, ihre Nachttöpfe aus dem Fenster zu kippen. Entsprechend stinkig und glitschig waren die Wege zur Themse hinunter. Manch einer kam nur deshalb stehend und unverpisst an, weil ihn das ständige Gedränge davon abgehalten hatte, auszugleiten und in einen der zahlreichen offenen Keller zu stürzen, aus denen heraus Waren verkauft wurden.
Plötzlich spürte John Law den warmen Atem eines Pferdes im Nacken. Ein großes Gespann versuchte sich eine Gasse zu bahnen. Der Kutscher brüllte und schwang die Peitsche. Die Menschen sprangen fluchend und schreiend zur Seite. Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff John Law den Haltegriff auf dem Kutschbock und schwang sich hinauf. Der Kutscher rief ihm irgendetwas Unverständliches zu. Er holte mit der Peitsche aus, um John Law vom Kutschbock zu prügeln.
»Sie wollen einen Bankier schlagen?«, lachte John Law und hielt das Armgelenk des Kutschers eisern fest. Der Kutscher sah ihn verwirrt an.
»Bei der Brücke lässt du mich wieder herunter, oder du landest bei den Galeeren«, schrie John Law, »Dock vierundzwanzig.«
Der Kutscher zuckte die Schultern und trieb wieder die Pferde an. Hin und wieder ließ er die Peitsche auf die Strolche hinuntersausen, die sich an der Kutsche zu schaffen machten. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den ungebetenen Gast. Er schien immerhin ein Gentleman zu sein. Also sprang für ihn vielleicht noch etwas dabei heraus.
Die Kutsche fuhr an den zahlreichen Raffinerien, Brauereien, Bauhöfen, Lagerhäusern, Kaffeehäusern und Märkten vorbei, die zur Themse hinunter immer zahlreicher wurden. Schließlich erreichten sie die ersten Kais, die in den letzten Jahren immer größer geworden waren. Hier sah man venezianische
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