Das große Yogabuch
haben sie den Zugang zu ihren eigenen Kraftquellen verloren. Sie können nicht mehr abschalten, ihr Geist läuft auch auf Hochtouren, wenn sie eigentlich ruhen wollen, und nachts können sie nicht schlafen.
Obwohl der Yoga vor so langer Zeit entstand, kennt er sich mit diesen nur scheinbar modernen Problemen sehr gut aus. Zwar haben sich die konkreten Ursachen für Stress im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber die Struktur unseres Geistes, der sich mit den Problemen herumschlagen muss, ist doch die gleiche geblieben.
Entspannung bedeutet nicht, dass Körper und Geist völlig abspannen, sondern vielmehr, dass überflüssige und schädliche Anspannung nachlässt. Der Zustand, der dann entsteht, kann am besten mit dem Wort »Wohlspannung« umschrieben werden.
Den Geist beruhigen
Patañjali ( > ) beschreibt in seinen Yoga-Sutras ausführlich, dass es unser Geist ist, der uns innerlich ständig umtreibt, und dass wir nur zu innerer Ruhe finden können, wenn wir lernen, unseren Geist zu kontrollieren und zu beruhigen. Wenn wir unseren Geist nicht kontrollieren, dann dominiert er uns ohne Unterlass.
Er beeinflusst unser ganzes Sein, wenn er sich mit Fragen beschäftigt wie: »Was soll ich tun, damit ich in dieser oder jener Situation den besten Eindruck mache? Wie soll ich mich zeigen, was soll ich unterlassen? Wie habe ich mich in dieser oder jener Situation verhalten? Welchen Eindruck haben die anderen von mir? Was denken sie von mir? Was fühlt mein/e Partner/in für mich? Werde ich wirklich gesehen, akzeptiert und geliebt?«
Diese Fragen bewegen uns ständig, sowohl bewusst als auch unbewusst. Da wir selten klare Rückmeldungen von unserer Umwelt bekommen, müssen wir uns in der Regel mit Vermutungen begnügen und mit der Ungewissheit leben. Jeder Mensch braucht das Gefühl, von anderen anerkannt zu werden. Deswegen sind wir ständig bemüht, uns so zu verhalten, dass wir Anerkennung bekommen – egal ob uns dieses Verhalten entspricht oder nicht. Dieses ständige Bemühen, dieses »So-tun-als-ob«, dieses »Sichverbiegen« erzeugt eine Anspannung, die sich nach und nach schädlich auf Körper, Geist und Seele auswirkt.
Die alten Yogameister haben diese Zusammenhänge sehr genau erkannt und immer wieder dargelegt, wie sehr wir uns mit einem solchen Verhalten von uns selbst entfremden, wie wir aufhören, uns zu spüren, bis wir eines Tages gar nicht mehr richtig wissen, wer wir sind. Wir sind nicht mehr in der Mitte, ja im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr »bei uns«. In diesem Zustand empfinden wir alles als Stress – jede Anforderung, jede Reaktion unserer Umwelt, jedes kleine Missgeschick.
Verhaltensmuster erkennen
Als ersten und wichtigsten Schritt schlagen nun die Yogameister vor, das eigene Verhalten mit etwas Abstand und ohne Wertung zu betrachten. Dabei kann ein Stressprotokoll helfen. Fangen Sie möglichst schon dann damit an, wenn Sie beginnen, sich anzuspannen und zu verspannen:
Beobachten Sie möglichst genau, was in einer solchen Situation im Einzelnen mit Ihnen geschieht, was Sie denken und fühlen, wie Sie reagieren. Dabei werden Sie feststellen, dass einige Stressauslöser selbst gemacht und damit auch vermeidbar sind. Das gilt besonders, wenn wir eine Neigung zum Perfektionismus bei uns beobachten können. Wir wollen etwas (oder sogar alles) besonders gut machen – zum einen, um Anerkennung von anderen zu bekommen, zum anderen, um unseren eigenen hohen Ansprüchen zu genügen. Wenn wir das erkennen, können wir unsere Ansprüche hinterfragen und uns überlegen, ob etwas weniger nicht auch genügt. Außerdem können wir daran arbeiten, weniger abhängig von Anerkennung zu werden. Auch das Gefühl, »Ich bin der Einzige, der durchblickt. Ohne mich läuft gar nichts«, also »Ich bin unverzichtbar«, ist ein häufiger Stressauslöser.
Lernen Sie, Ihren Geist zu beobachten
Als Beobachter Ihrer selbst können Sie lernen, sich im Denken, Handeln und Reagieren zuzuschauen. Patañjali schreibt: »Die Ursache für Handlungen, die leidvolle Auswirkungen haben, liegt in unserer Unfähigkeit, zwischen dem, was wahrgenommen wird, und dem, was wahrnimmt, zu unterscheiden« (Yoga Sutra 2.17).
Leid entsteht, weil unser Geist mit dem, was geschieht, verschmilzt. Und weil wir uns mit all den flüchtigen Gedanken, Gefühlen, Vermutungen und Projektionen identifizieren, die im Laufe eines Tages kommen, bestehen – und wieder vergehen.
Wenn Sie die Instanz des Beobachters in sich entwickeln, wird es
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