Das große Zeitabenteuer
zwei-eins-zwei«, sagte Lafayette instinktiv.
»Danke. Bitte warten.«
O'Leary hielt den Hörer ans Ohr gepreßt, horchte auf das Summen, schrak zusammen, als es in der Leitung laut knisterte, und hörte es am anderen Ende klingeln. Pause. Wieder das Klingeln. Pause. Wenn Nicodaeus nicht zu Hause war? Die Polizisten würden bald aufmerksam werden und das Gespräch …«
»Hallo?« sagte eine tiefe Stimme vorsichtig.
»Nicodaeus!« Lafayette hielt den Hörer fester.
»Lafayette! Sind Sie das, mein Junge? Ich dachte Sie… ich fürchtete schon, Sie …«
»Okay, lassen wir das vorläufig. Ich habe offenbar einige kleine Fehler gemacht und bin…«
»Lafayette! Wo haben Sie meine Nummer her? Sie steht nicht im Telefonbuch, und ich …«
»Das kann ich Ihnen alles später erklären. Ich brauche Hilfe! Ich möchte wissen, äh, wo … ich meine, wie… oh, der Teufel soll alles holen, ich weiß nicht, was ich brauche! Aber…«
»Du meine Güte, das ist alles sehr verwirrend, Lafayette. Wo sind Sie jetzt?«
»Ich würde es Ihnen erzählen, aber ich fürchte, daß Sie es nicht verstehen würden! Sie existieren nicht wirklich, wissen Sie – ich habe mir alles nur eingebildet –, aber als Goruble mich einsperren ließ, beschloß ich aufzuwachen – und war plötzlich hier!«
»Lafayette, Sie sind etwas verwirrt, mein Junge. Was übrigens meine Nummer betrifft…«
»Zum Teufel mit Ihrer Nummer! Holen Sie mich hier heraus! Vor meiner Zelle hocken vier oder fünf blöde Polizisten und überlegen, mit welcher Begründung sie mich möglichst lange…«
»Blöde Polizisten, ha?« knurrte die heisere Stimme. Lafayette wurde der Hörer aus der Hand gerissen, und er starrte in das ausdruckslose Gesicht eines rothaarigen Polizisten mit dicken Lippen und Boxernase. »Sie quatschen gefälligst nicht ungefragt, kapiert?« Der Mann legte den Hörer auf. »Und das macht zehn Cents für den Anruf.«
»Setzen Sie es auf die Rechnung«, sagte Lafayette erbittert. Der Polizist schnaufte verächtlich und ging davon.
O'Leary streckte sich seufzend auf dem harten Bett aus und schloß die Augen. Vielleicht war er tatsächlich übergeschnappt, aber seine einzige Möglichkeit, dieser peinlichen Situation zu entgehen, bestand daraus, auf gleiche Weise einen anderen Ausweg zu finden: er brauchte nur einen anderen Traum zu träumen – diesmal würde er an einem friedlicheren Ort auftauchen, nahm er sich vor; zum Teufel, mit romantischen alten Straßen und gemütlichen Kneipen und schönen Prinzessinnen… Aber Adoranne war bewundernswert gewesen … Wirklich eine Schande, daß er so verschwunden war; jetzt mußte sie ihn für einen Lügner und Betrüger halten.
Der Mann, der ihn durch die finsteren Geheimgänge geführt hatte – war ihm der Kerl nicht irgendwie bekannt vorgekommen? Wer hatte ihm diesen Auftrag gegeben? Und warum? Vielleicht Alain? Nein, der Graf war arrogant, aber bestimmt nicht heimtückisch; er hätte Lafayette einfach den Degen in den Leib gerannt. Nicodaeus? Aber welches Motiv hätte der Hofzauberer gehabt?
O'Learys Überlegungen wurden unterbrochen, als seine Zelle mit einem Ruck einen halben Meter nach rückwärts zu gleiten schien. Er setzte sich auf und starrte zum Fenster hinüber. Dort hingen rote Vorhänge; auf dem Fensterbrett standen Geranien…
Vorhänge? Geranien? O'Leary sprang auf und sah sich um. Das Zimmer mit der niedrigen Decke und dem Bretterboden war tadellos sauber; Lafayette sah ein massives Bett, einen dreibeinigen Hocker und eine Tür aus Eichenholz. Das Eisengitter, die Betonwände und die Polizisten waren verschwunden. Er ging ans Fenster und sah auf eine Straße hinab, auf der das Hämmern einer nahegelegenen Schmiede und die Rufe der Krämer ertönten. Fachwerkhäuser, Erker und windschiefe Giebel ragten an allen Seiten auf; im Hintergrund erhob sich der Palast mit seinen fahnengeschmückten Türmen. Er war wieder in Artesia!
O'Leary merkte, daß er dümmlich grinste. Trotz aller schlechten Erfahrungen, die er bisher gemacht hatte, war er froh, hierher zurückgekehrt zu sein. Und da er schon einmal hier war, konnte er auch das kleine Mißverständnis mit Ado- ranne bereinigen.
Lafayette wusch sich in der Porzellanschüssel auf der Kommode, brachte seinen Anzug in Ordnung, warf eines der kleinen Goldstücke, die er in seiner Tasche gefunden hatte, aufs Bett und ging auf die Straße hinunter. Dort bog er in die erste Seitenstraße ein, die zum Palast führte, und drängte sich an
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