Das grüne Haus (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Abfälle. Die Aguarunas in der Umgebung machen sich jeden Nachmittag dort zu schaffen, die einen stochern im Müll herum auf der Suche nach Eßbarem und Haushaltsgegenständen, während andere mit Geschreiund Stockhieben die Aasgeier verjagen, die gierig über der Schlucht kreisen.
»Ist es dir gleichgültig, daß diese Mädchen jetzt wieder in Schande und Sünde leben?« sagte die Oberin. »Daß sie alles vergessen, was sie hier gelernt haben?«
»Deine Seele ist immer noch heidnisch, auch wenn du christlich sprichst und nicht mehr nackt herumläufst«, sagte Madre Angélica. »Es ist ihr nicht nur gleichgültig, Madre, sie hat sie entfliehen lassen, weil sie wollte, daß sie wieder Wilde würden.«
»Sie wollten weg«, sagte Bonifacia, »sie sind in den Patio gekommen und bis zur Tür, und ich habe in ihren Gesichtern gesehen, daß sie auch wegwollten, zusammen mit den beiden, die gestern gekommen sind.«
»Und du hast sie gehen lassen!« schrie Madre Angélica. »Weil du wütend auf sie warst! Weil sie dir Arbeit gemacht haben, und du haßt die Arbeit, Faulpelz! Teufelin!«
»Beruhigen Sie sich, Madre Angélica.« Die Oberin stand auf.
Madre Angélica legte eine Hand aufs Herz, strich sich über die Stirn: Lügen brachten sie in Harnisch, Madre, es tat ihr leid.
»Es war wegen der zwei, die du gestern gebracht hast, Mamita«, sagte Bonifacia. »Ich wollte nicht, daß die andern auch weggingen, nur die zwei, weil sie mir leid getan haben. Schrei nicht so, Mamita, danach wirst du krank, wenn du dich aufregst, wirst du immer krank.«
Wenn Bonifacia und die Mündel, die den Müll fortschaffen, zur Mission zurückkehren, haben Madre Griselda und ihre Gehilfinnen den Morgenimbiß zubereitet: Obst, Kaffee und ein Brötchen, das im Backofen der Mission gebacken wird. Nach dem Imbiß gehen die Mädchen in die Kapelle, erhalten Unterricht in Katechismus und biblischer Geschichte und lernen die Gebete auswendig. Mittags kehren sie in die Küche zurück und bereiten unter der Aufsicht Madre Griseldas – rotbäckig, immer in Bewegung und redselig – das leichte Mittagessen: Gemüsesuppe, Fisch, Maniok, zwei Brötchen, Obst und gefiltertes Wasser. Anschließend können die Mündel eine Stunde lang im Patio und im Obstgarten spielen oder sich in den Schatten der Obstbäume setzen. Dann geht es hinauf in den Arbeitssaal. Den Neulingen bringt Madre Angélica Spanisch bei, das Alphabet und die Zahlen. Die Oberin gibt den Geschichtsund Erdkundeunterricht, Madre Angela Zeichnen und Haushaltskunde und Madre Patrocinio Rechnen. Gegen Abend beten die Nonnen und die Mündel in der Kapelle den Rosenkranz, und anschließend verteilen sich die Mädchen wieder in Arbeitsgruppen: in der Küche, im Obstgarten, im Vorratsraum, im Refektorium. Der Abendimbiß ist noch karger als der vom Morgen.
»Sie haben mir von ihrem Dorf erzählt, um mich zu überreden, Madre«, sagte Bonifacia. »Alles haben sie mir angeboten, und sie haben mir leid getan.«
»Nicht einmal lügen kannst du, Bonifacia«, sagte die Oberin und löste die Hände, die weiß im blauen Dunkel flatterten und sich dann erneut zu einer runden Form zusammenfügten. »Die Mädchen, die Madre Angélica aus Chicais gebracht hat, sprachen gar nicht christlich. Siehst du, wie du vergeblich lügst?«
»Ich kann heidnisch, Madre, du weißt es nur nicht.« Bonifacia hob den Kopf, zwei grüne Flämmchen blitzten eine Sekunde lang unter den dichten Haaren hervor. »Ich hab’s gelernt, weil ich den Heidenmädchen so oft zugehört hab, ich hab es dir nie gesagt.«
»Du lügst, Teufelin!« schrie Madre Angélica, und ihre runde Gestalt plusterte sich auf und flatterte leicht. »Hören Sie nur, was sie jetzt wieder erfindet, Madre. Banditin!«
Aber Grunzlaute unterbrachen sie, die aufgesprudelt waren, so als wäre in der Vorratskammer ein Tier versteckt, das, plötzlich wütend geworden, sich nun durch Jaulen, Knurren, Schnurren verriet, indem es aus der Dunkelheit spitze und knirschende Geräusche hervorstieß, in einer Art wilder Herausforderung.
»Siehst du, Mamita?« sagte Bonifacia. »Gelt, du hast mein Heidnisch verstanden?«
Jeden Tag wird Messe gelesen, vor dem Morgenimbiß. Geleitet wird sie von den Jesuiten einer benachbarten Mission, gewöhnlich von Padre Venancio. An Sonntagen werden auch die Seiteneingänge der Kirche geöffnet, damit die Einwohner von Santa Maríade Nieva dem Amt beiwohnen können. Die Behördenvertreter fehlen nie, und manchmal kommen Landwirte,
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