Das grüne Haus (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
wahr?«
Bonifacia wandte sich zur Seite, hob den Kopf, ihre Augen betrachteten interessiert die Hand der Oberin. Selbst bis in diesen Winkel der Vorratskammer drang das Geschwätz der Papageien im Obstgarten. Durch das Fenster sah man das Geäst der Bäume bereits dunkel, ununterscheidbar. Bonifacia stützte die Ellbogen auf den Boden: sie wußte es nicht, Madre.
»Und was wir alles für dich getan haben, weißt du das etwa auch nicht?« brach Madre Angélica los, diemit geballten Fäusten hin und her ging. »Und wie du warst, als wir dich aufgelesen haben, das weißt du auch nicht, hm?«
»Wie soll ich das wissen?« murmelte Bonifacia. »Ich war doch noch klein, Mamita, ich erinnere mich nicht.«
»Hören Sie nur den Ton an, in dem die spricht, Madre, wie brav sie tut!« kreischte Madre Angélica. »Meinst du, du kannst mir etwas vormachen? Als kennte ich dich nicht. Und wer hat dir erlaubt, immer noch Mamita zu mir zu sagen?«
Nach den Abendgebeten treten die Nonnen ins Refektorium, und die Mündel, ihnen voran Bonifacia, begeben sich in den Schlafsaal. Sie stellen ihre Betten auf, und sobald sie drin liegen, löscht Bonifacia die Harzlämpchen, schließt die Tür ab, kniet vor dem Kreuz nieder, betet und legt sich dann schlafen.
»In den Obstgarten bist du hinausgerannt, hast in der Erde gescharrt, und kaum hast du einen Wurm erwischt oder eine Raupe, da hast du sie dir schon in den Mund gestopft«, sagte die Oberin. »Darum warst du immer krank. Und wer hat dich geheilt und gepflegt? Kannst du dich daran auch nicht mehr erinnern?«
»Und nackt warst du!« rief Madre Angélica. »Und die Kleider habe ich dir vergeblich gemacht, vom Leib gerissen hast du sie dir und allen deine Scham gezeigt, und dabei warst du mindestens schon zehn Jahre alt. Du warst damals schon schlecht, Teufelin, auf alles Schmutzige warst du versessen.«
Die Regenzeit war schon zu Ende, und es wurde schnell Nacht: hinter dem Wirrwarr aus Ästen und Blättern im Fenster war der Himmel eine Konstellation aus düsteren Umrissen und Funken. Die Oberin saß auf einem Sack, sehr aufrecht, und Madre Angélica ging hin und her, fuchtelte mit der Faust, schob manchmal einen Ärmel ihres Habits zurück und streckte den Arm vor, eine kleine weiße Viper.
»Ich hätte nie geglaubt, daß du zu so etwas fähig wärst«, sagte die Oberin. »Wie ist es denn zugegangen, Bonifacia? Warum hast du das getan?«
»Hast du nicht daran gedacht, daß sie verhungern oder im Fluß ertrinken können? Wo hast du denn deinen Kopf gehabt, Banditin?«
Bonifacia schluchzte auf. Die Vorratskammer hatte sich mit jenem Geruch nach säuerlicher Erde und feuchten Pflanzen angefüllt, der mit der Dunkelheit aufkam und immer stärker wurde. Ein starker, beißender, nächtlicher Geruch, der zusammen mit dem schon sehr deutlichen Zirpen der Grillen und Zikaden durch das Fenster hereindrang.
»Wie ein kleines Tier warst du, und wir haben dir hier ein Heim, eine Familie und einen Namen gegeben«, sagte die Oberin. »Und einen Gott haben wir dir auch gegeben. Bedeutet dir das gar nichts?«
»Zu essen hattest du nichts, auch nichts zum Anziehen«, knurrte Madre Angélica. »Und wir haben dich aufgepäppelt, gekleidet, erzogen. Warum hast du das mit den Mädchen gemacht, Elende?«
Dann und wann durchlief ein Zucken Bonifacias Körper von den Hüften zu den Schultern. Der Schleier hatte sich gelöst, und die glatten Haare fielen ihr in die Stirn.
»Hör auf zu weinen, Bonifacia«, sagte die Oberin. »Red endlich!«
Die Mission wacht bei Morgengrauen auf, wenn dem Summen der Insekten das Zwitschern der Vögel folgt. Bonifacia betritt den Schlafsaal und läutet mit einem Glöckchen: die Mündel springen aus den Betten, beten Ave Marias, schlüpfen in ihre Kittel. Dann verteilen sie sich in Gruppen in der Mission, je nach ihren Pflichten: die Jüngeren fegen den Patio, im Wohnhaus, das Refektorium; die Älteren die Kapelle und den Arbeitssaal. Fünf Mädchen schleifen die Abfalleimer in dem Patio hinaus und warten auf Bonifacia. Geführt von ihr, gehen sie den Pfad hinunter, überqueren die Plaza von Santa María de Nieva, wandern durch die Felder und verschwinden, ehe sie die Hütte des Lotsen Nieves erreichen, in einem Hohlweg, der sich zwischen Capanabuas, Chontas und Chambiras dahinwindet und in einer kleinen Schlucht mündet, der Müllgrube des Dorfes. Einmal wöchentlich machen die Dienstboten des Bürgermeisters Manuel Aguila ein großes Feuer und verbrennen die
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