Das gruene Zelt
Zeit draußen in der Kälte verbringen. Träge berührten sie die Bücher – sie hatten sofort begriffen, dass hier aufgeräumt worden war. Dann fanden sie etwas – einen Aschenbecher voller abgebrannter Streichhölzer und Büroklammern auf der Toilette.
»Was haben Sie verbrannt?«, fragte der Mann mit dem Toupet lächelnd. Er hatte sich als Alexandrow vorgestellt, Ermittler von der Staatsanwaltschaft, aber Olga hatte seinen Namen sofort wieder vergessen. Sie konnte sich nicht entscheiden, wer die Besucher waren: Miliz, KGB oder Staatsanwaltschaft. Sie wusste nicht, dass derartige Razzien in unterschiedlicher Besetzung durchgeführt wurden, mit feinen Unterschieden: Die einen interessierten sich ausschließlich für Antisowjetschiks, für die Unterzeichner von Protestbriefen, andere für Bücher, wieder andere nur für Juden.
»Wir haben Toilettenpapier verbrannt, damit es auf dem Abort nicht so stinkt«, antwortete Olga frech.
»Und mit den Büroklammern wischen Sie sich ab?«, parierte Alexandrow und zeigte auf den Aschenbecher. Er ahnte wohl, was mit diesen Büroklammern zusammengeheftet gewesen war: Protestbriefe für Unterschriftensammlungen, Ausgaben der Chronik .
»Das Haus ist voller Bürokram, was wollen Sie, meine Mutter leitet eine Zeitschriftenredaktion!«
Ziemlich arrogant, die Schlampe, dachte Alexandrow. Er war ein erfahrener Mann.
Olga gab sich Mühe, nicht zu dem abgeschabten Koffer unter der Garderobe zu schauen, der von einem alten Uniformmantel und einem Pelzmantel ihrer Mutter halb verdeckt wurde. Ob sie ihn bemerkten? Oder nicht?
Sie bemerkten ihn in genau diesem Augenblick. Alexandrow bat Olga, den Koffer zu öffnen. Sie tat es, er warf einen flüchtigen Blick hinein, begriff sofort und grinste.
»Ich sehe, Sie haben sich gut vorbereitet.«
Der Form halber wühlten sie noch anderthalb Stunden herum. Außer dem Koffer nahmen sie die beiden Schreibmaschinen von Olgas Mutter mit, das Fernglas ihres Vaters, Iljas Lieblingsfotoapparat, sämtliche Notizbücher, auch die ihrer Mutter, selbst den Abreißkalender von der Wand. Außerdem Fotos aus Iljas »goldener Sammlung«, Porträts der interessantesten Menschen ihrer Zeit: Jakir, Krassin, Alik Ginsburg, die Priester Dmitri Dudko, Gleb Jakunin, Nikolai Eschliman, die Schriftsteller Daniel und Sinjawski, Natalja Gorbanewskaja.
Es war das einzige Fotoarchiv dieser Zeit und wurde später als Dissidentenarchiv bekannt. Es enthielt unter anderem Fotos, die in westlichen Zeitungen veröffentlicht worden waren. Fotos, die Ilja an seinen deutschen Freund Klaus, einen Journalisten, und an einen Amerikaner verkauft hatte, und andere, die über seinen belgischen Freund Pierre in den Westen gelangt waren.
Als Alexandrow die Mappe mit den Fotos aus Kostjas Schreibtisch zog, wusste Olga, dass Ilja tief in der Tinte saß.
Vorm Haus stand ein schwarzer Wolga, ein Stück entfernt ein grauer. Der Koffer, die Schreibmaschinen und ein Sack mit Papieren wurden in den grauen geladen, Olga selbst in den schwarzen. Sie saß hinten, eingezwängt zwischen zwei Männern. Sie fuhren nicht weit, in die Malaja Lubjanka, zu einem einstöckigen Haus, an dem unverhohlen stand: »Verwaltung des Komitees für Staatssicherheit für Moskau und das Moskauer Gebiet« .
Nach zwei begann, so schien es Olga, das eigentliche Verhör. In dem Büro saß neben Alexandrow noch ein nahezu stummer Hauptmann. Der erste Mann in Uniform an diesem Tag. Sie erfuhr nicht, dass dies kein Verhör war, sondern nur ein Gespräch.
Was sagen? Was nicht? Lügen hatte Olga nicht gelernt. Ilja hatte ihr eingeschärft: Sich klug verhalten heißt, nichts sagen. Aber gerade das war am schwierigsten. Und entgegen ihrer Absicht redete Olga – eine Stunde, zwei, drei Stunden. Die Fragen waren irgendwie unverfänglich – mit wem sind Sie befreundet, wen besuchen Sie, was lesen Sie. Sie erwähnten den inzwischen emigrierten Dozenten, sie wussten natürlich, dass sie Protestbriefe unterschrieben hatte, dass sie 1965 von der Uni geflogen war. Und beinahe mitfühlend: Dieses ganze antisowjetische Zeug, warum belasten Sie sich damit? Sie kommen doch aus einer anständigen sowjetischen Familie, mit wem haben Sie sich da eingelassen?
Olga stellte sich ein bisschen dumm, faselte, dass ihr kaum noch Freundinnen geblieben seien, alle seien verheiratet, hätten Kinder, ihre Arbeit … Rachsüchtig nannte sie als ihre einzige enge Freundin Galja Poluchina, keinen Namen zuviel, wie sie glaubte.
Zu Olgas Erstaunen
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