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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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nass, die Kissen, die Decke! Was für ein Glück! Schade, dass es kein Feuer war! Nein, eine Überschwemmung ist besser! Olga, wir werfen das jetzt alles weg! Zum Teufel mit dem ganzen Zeug! Alles, was die KGB-Leute nicht mitgenommen haben! Platon! Aristoteles! Hegel! Auch die deutschen Bücher! Und Karl Marx! Und Engels!«
    Sie stürzte sich auf die Regale und warf die durchweichten und auch die vollkommen trockenen Bücher hinaus, sie platschten schwer in das flache, faulige Wasser, Fetzen von Bildern und Tapeten und kleine Vasen flogen herum …
    »Ob der grauen Meeresebene treibt der Wind Gewölk zusammen. Zwischen Wolkenzug und Wasser schießt der Vogel Sturmverkünder, einem schwarzen Blitz vergleichbar. Und das Meer mit Flügeln peitschend, und, ein Pfeil, die Wolke treffend, schreit er. Und es hört die Wolke Lust im kühnen Schrei des Vogels.«
    In fremden Kleidern (einem schwarzen Pullover von Olga und einer mit Iljas Gürtel zusammengehaltenen Hose), die Marina nach dem Wanzenvernichtungsbad angezogen hatte, rannte sie durchs Zimmer, schleuderte Bücher vom Regal und schrie:
    »Leidenschaft ist in dem Schrei und Zorn und Sehnsucht nach dem Sturme und die Zuversicht des Siegers; diesen Schrei versteht die Wolke. Tobe, Sturmwind, tobe stärker! Ich scheiß drauf! Du hast ja keine Ahnung, Olga! Ich bin nämlich ein Wunderkind! Ich habe das alles gelesen! Sogar Platons Staat hab ich gelesen! Mit vierzehn Aristoteles! Hegel hab ich nicht gelesen, aber das Kommunistische Manifest, das hab ich gelesen! Und ich scheiß drauf! Überschwemmung! Wir haben eine Überschwemmung! Endlich eine Überschwemmung! Ich schmeiße alles weg und renoviere! Selber! Ich wasche hier alles ab und streiche alles weiß! Alles wird weiß, ganz weiß!«
    Olga begriff, dass Marina es ernst meinte, und trug die aufgeweichten Bücher auf den Müll. Den blauen Lenin, den roten Stalin, den gesamten historischen und dialektischen Materialismus, die gesamte Politökonomie …
    »Zusammen mit den Wanzen! Dass du’s weißt, wir haben auch Wanzen! Weniger als in Peterhof … aber genug!«, rief Marina.
    Auch Olga wurde plötzlich fröhlich. Da war es wieder – Väter und Söhne! Wenn die Kulakows entlassen wurden – Valentin in zwei Jahren, Sina in einem Jahr plus drei Jahre Verbannung – und zurückkehrten, dann würde hier alles rein und weiß sein.
    Eines war ihr unklar – wie Marina so viele Jahre allein zurechtkommen sollte, das mutige, verwegene Mädchen voller Wanzenbisse, vergewaltigt von zwei Alkoholikern, erbarmungslos gegen sich selbst, erbarmungslos gegen die Eltern … ein zartes kleines Mädchen.
    Beim dritten Gang zum Müll, einem riesigen, aus ungehobelten Brettern gezimmerten Kasten, sah Olga dort einen mittelgroßen Hund sitzen. Gera! Sie hatte allein von der Molodjoshnaja zum Zwetnoi-Boulevard zurückgefunden. Ein echter Dissidentenhund.

Hamlets Schatten
    Ilja brachte Olga eine Karte für den Durchlauf am Tag vor der Premiere. Besorgt hatte sie Alik, ein Beleuchter aus dem Theater, ein langjähriger Freund von Ilja. An die Premiere war nicht zu denken, sämtliche Karten waren längst vergeben. Die Karte für den Durchlauf war für eine Person ausgestellt. Für Olga. Olga strahlte vor Dankbarkeit.
    Diese Vorstellung für die »Papas und Mamas« war brechend voll, auch in den Gängen saßen Zuschauer. Nur die Plätze in den ersten beiden Reihen waren nicht für das Publikum – dort saßen die Künstler: Ljubimow, schön wie ein Feldherr vor der Schlacht, er hätte selbst einen energischen König, einen großen Bösewicht oder den lieben Gott spielen können; der mürrische Bühnenbildner mit dem großen Froschmund, der hagere junge Komponist, der Regieassistent und weitere Personen, die irgendwie mit der Aufführung zu tun hatten.
    Als Olga den Saal betrat, fröstelte es sie vor Begeisterung und Aufregung wie vor einer wichtigen Prüfung. Alles war irgendwie erhaben, wie in Großbuchstaben: das THEATER, der REGISSEUR, HAMLET, SHAKESPEARE, WYSSOTZKI. Sie setzte sich in die vorletzte Reihe an die Seite und schaute sich noch lange nach allen Seiten um, denn auch das Publikum entsprach dem Ereignis, lauter bedeutende Persönlichkeiten, lauter edle Gesichter. Plötzlich legte ihr jemand von hinten eine Hand auf die Schulter, und eine tiefe, angenehme Stimme sprach sie halb fragend an:
    »Olga?«
    Sie drehte sich um. Etwas an dem dicken Orientalen kam ihr bekannt vor.
    »Karik? Mirsojan?«, begrüßte sie erfreut den einstigen

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